piwik no script img

Das Orgon lieben und verstehen lernen

■ Der Kongreß zur „Lebensenergie–Forschung“ stand ganz im Zeichen des späten Wilhelm Reich / Praktischer Tip der Theoretiker: statt Radio, Elektrokabel oder Lichtdimmer an der Schlafstatt schöne Farben, Liebe, Lust und Freude

Aus Berlin Imma Harms

„Hier fließt alles zusammen“, sagt Bernd Senf, der Mitbegründer der Berliner Wilhelm–Reich– Initiative. Eine ausholende Handbewegung unterstreicht seine Worte. Er meint damit die verschiedenen Beiträge auf dem von ihm organisierten Kongreß zur „Lebensenergie–Forschung“, der vom Freitag bis zum Sonntag in der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft stattfand. Er stand ganz im Zeichen des „späten Reich“, des Entdeckers (oder Erfinders?) der kosmischen Orgon– Energie und der Bione, jener pulsierenden Lebensbausteine, die, wie auch der Mensch selbst, im Wechselbad zwischen Lust und Frust, Lebensenergie in blauen Flämmchen abstrahlen. Während der „frühe Reich“ mit seiner Sexualökonomie, Charakteranalyse und Körperpanzertheorie Eingang in die Psychoanalyse fand und noch in den 60er Jahren eine heftige Renaissance erlebte, wurde sein Spätwerk, das in die Tiefen der Theorien über Energie und Materie abtauchte, stets als Produkt eines genialen Hirns auf Irrwegen gehandelt. Gerade diese nur in großen Linien entworfenen Theorien aus den 30er Jahren bildeten das Fahrwasser für eine Vielzahl von Inspirierten aus den Bereichen Medizin, Technik, Grundlagenphysik und Wissenschaftstheorie, die dieser Kongreß zusammenführte. Die Skala der Beiträge reichte von bioenergetischen Behandlungsmethoden für den sterbenden Wald über Nachweisverfahren für die von Reich postulierten Phänomen und Abhandlungen über die Existenz eines universellen Äthers, neuen physikalischen Weltbildern von der Selbstorganisation der Materie bis zu theoretischen und praktischen Beiträgen zum Orgonakkumulator. Mit ihm kann kosmische Energie verstärkt und dem Menschen heilsam zugeführt werden. Abseitige Denker, die von der herrschenden Wissenschaft ausgegrenzt und verfemt werden, oder Scharlatane, die halbgare Theorien an ein gläubiges Publikum verhökern? Zwei der insgesamt elf Referate machen die Spannweite deutlich. Bernhard Schaeffer, Physiker und Mitbegründer der Berliner „Werkstatt für dezentrale Energieforschung“ beschäftigt sich seit 25 Jahren damit, den „Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik“ zu widerlegen, der besagt, daß sich selbst überlassene Materie stets den Zustand größmöglicher Unordnung anstrebt. Schaeffer führte gegen die Theoretiker von Newton bis Einstein, die Wissenschaftsgeschichte geschrieben ha ben, seinen Lehrer Wilhelm Bauer ins Feld. Bauer knüpft seine Äthertheorie an die ursprünglich von Newton entworfene, später mit der Wellentheorie verschmolzene Vorstellung von den das Universum füllenden Korpuskeln. Der Äther formt sich durch unbe kannte Einflüsse zu Wirbeln, und zwar ohne äußeres Einwirken, worin der Widerspruch zum Zweiten Hauptsatz besteht. Diese Wirbel bleiben erhalten, vergrößern sich, greifen ordnend und dabei Energie–freisetzend auch in andere Medien, etwa Luft und Wasser, ein. Als Beispiel gilt die Entstehung von Hurrikanen, die, auch nach Auffassung von orthodoxen Wissenschaftlern, nicht erforscht ist. Die Entstehung unbelebter und belebter Materie ist nach Bauer auf ein kompliziertes Zusammenwirken von unter schiedlichsten Wirbelsystemen zurückzuführen. Die auf diese Weise von der Materie selbst erzeugte Energie, die Tachionen– Energie, könnte, sollte es gelingen, sie technisch zu greifen, die menschenlichen Energiebedürfnisse restlos befriedigen. „Aber ich warne vor den unübersehbaren folgen“, sagt Schaeffer. „Was die Nutzung der Tachionen–Energie für Konsequenzen für unsere Gesundheit hat, ist von keinem zu übersehen. Schon jetzt sind wir von Äther– und Elektro–Smog umgeben, der uns schwer schadet.“ Nachweisen kann man die diskutierten Phänomene Schaeffer zufolge nicht nach der Descarteschen Methode, die „die Natur aufs Folterbett spannt“, sondern nur nach der Devise der Bettina von Arnim, die besagt, „daß man nur verstehen kann, was man liebt“. Die etwa 200 Zuhörer und Zuhörerinnen klatschen begeistert. Äther– und Elektro–Smog ist die Berufung von Hans–Helmund Preisel, der Ratschläge gibt, wie die Wohnung, speziell die Schlafstatt vom irritierenden Wellensalat zu befreien ist. Sein Weltbild ist so folgerichtig wie einfach: Technische und körpereigene Felder stören sich gegenseitig, der Körper funktioniert nicht mehr richtig, die Körperströme werden blockiert, es kommt zum inneren Stau und dann zur Krankheit. Also: alles Metallische, das zum wellenverstärkenden Schwingkreis werden könnnte - weg vom Bett! Kein Radio, keine Federkernmatrazen, keine unter Spannung stehenden Kabel, und vor allem keine Dimmer (regelbare Lichtschalter)! Zur Beruhigung der Ätherlage in der Wohnung entwickelt Preisel gerade einen Sender, der harmonische Signale ausstrahlt. Empfohlen werden auch die positiven Vibrations, die von Musik (harmonischer natürlich), schönen Farben, Freude, Liebe und Lust ausgehen. Wer darüber nicht in ausreichendem Maße verfügt, kann sich mit einer Orgon–Decke, streng nach Reich, zudecken, die vor dem Tagungsraum angeboten wird. Wie sagt doch Schaeffer in bezug auf die mißgedeuteten Newtonschen Theorien? „Das größte Elend sind immer die Nachfolger, weil sie den großen Meister undifferenziert nachkäuen.“ Nachfolger in diesen Sinn und Weiterdenker sind in der Reichschen Ideenwelt schwer zu unterscheiden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen