Funkstille in den Zentralen

■ Auch in der Endphase des Wahlkampfes üben sich die Gewerkschaften in vornehmer Zurückhaltung Massenarbeitslosigkeit und Tarifkampf erst nach der Wahl wieder „heiße Themen“

Von Martin Kempe

Berlin (taz) - Zwei Tage vor dem Wahlgang am 25. Januar herrscht Funkstille in den Vorstandsetagen der Gewerkschaften. In den Mitgliederzeitungen vom Januar hatten die Spitzenfunktionäre noch einmal wort– und faktenreich das sozialpolitische Sündenregister der Regierungskoalition ausgebreitet und mehr oder weniger unverhohlen zur Wahl der Opposition, vorzugsweise natürlich der SPD, aufgerufen. Aber schon als diese letzten Worte an die Mitglieder durch die Druckwerke der Frankfurter Union–Druckerei liefen, wußten die Oberfunktionäre beim DGB und den Einzelgewerkschaften um die Vergeblichkeit ihrer Mühen. Jetzt, unmittelbar vor der Wahl, glaubt außer ein paar Rau–Fans aus Nordrhein–Westfalen niemand mehr, daß Kohl, Bangemann und Blüm ab nächster Woche wieder auf den Oppositionsbänken sitzen werden. Statt Wahlkampf Schriftkampf „Wir gehen über die SPD hinweg zur Tagesordnung über“, heißt es in der Frankfurter IG Metall–Zentrale. Denn auch für die beiden Gewerkschaften, die im Frühjahr dieses Jahres wieder auf eine tarifpolitische Kraftprobe für die 35–Stunden–Woche zusteuern, die IG Metall (IGM) und die IG Druck und Papier (Drupa), geht der Wahlsieg der konservativ–liberalen Koalition als feste Größe in die unmittelbare politische Zukunftsplanung ein. Lediglich die Höhe der bevorstehenden Wahlniederlage der Opposition bleibt ein Unsicherheitsfaktor: Fällt sie sehr drastisch aus, befürchten beide Gewerkschaften eine Verhärtung der Arbeitgeberhaltung in der bevorstehenden Tarifauseinandersetzung. Gibt es trotz aller pessimistischen Prognosen einen Achtungserfolg der Opposition, steigen die Chancen, diesmal - anders als vor drei Jahren - ohne größere Kampfmaßnahmen zu einem akzeptablen Kompromiß zu kommen. Ursprünglich hatten beide Gewerkschaften ihr Thema, die Massenarbeitslosigkeit und die deswegen notwendige Umverteilung der vorhandenen Arbeit, offensiv in den Wahlkampf hineintragen wollen. Inzwischen ist man fast froh, daß dies nicht gelungen ist. „Versöhnen statt spalten“? Angesichts des voraussichtlichen Wahlergebnisses ist man im Gegenteil eher bemüht, Wahlkampf und Tarifkampf in der Öffentlichkeit auseinanderzuhalten. Denn dann kann niemand behaupten, die Wahlniederlage der Opposition sei gleichzeitig eine Absage der Bevölkerung an die Forderungen der Gewerkschaft. Aus diesem Grund sind die Bemühungen der SPD, die seit einigen Wochen zwecks Mobilisierung der Stammwählerschaft verstärkt führende Gewerkschafter in den Wahlkampf einzubeziehen versucht, nur von mäßigem Erfolg gekrönt. „Was sollen wir uns“, so heißt es bei IGM und Drupa, „in einen Wahlkampf einspannen lassen, dessen Leitmotiv „versöhnen statt spalten“ ist, während wir gleichzeitig unsere Mitglieder für den Tarifkampf mobilisieren? Tatsächlich will das Rausche Kandidatenmotiv so gar nicht mit der politischen Erfahrung von 1984 zusammenpassen, daß den Arbeitgebern jede Minute Arbeitszeitverkürzung nur durch massivsten Einsatz gewerkschaftlicher Machtmittel abzutrotzen is die sozialen Gegensätze verkleistere, könnten die Gewerkschaften ihre Mitglieder nur dann für eine Strategie der Arbeitsumverteilung mobilisieren, wenn die gegensätzlichen Interessen von Arbeitnehmern und Unternehmern bewußt gemacht würden. Interessant in diesem Zusammenhang, daß auch eingefleischte SPD–Gewerkschafter - gewohnt in sozialen Gegensätzen zu denken - klar zwischen dem konservativ– liberalen Block auf der einen und einem rot–grünen Block auf der anderen Seite unterscheiden. Schwergängige Mobilisierung Warum es nicht gelungen ist, das Thema Massenarbeitslosigkeit in den Wahlkampf hineinzutragen und zu politisieren, lassen die Gewerkschafter wohlweislich offen. Natürlich sei die SPD– Wahlkampfkonzeption dafür denkbar schlecht gewesen. Aber ob es mit einer anderen Strategie beser hätte gelingen können, wird bezweifelt. Denn schließlich haben die Gewerkschaften mit der neuen Heimat selbst dafür gesorgt, daß sich im Herbst 1986 niemand mehr für die Arbeitslosen interessierte. Und schließlich müssen sie auch eingestehen, so ein Sprecher der IG Druck und Papier, daß große Teile der Mitgliedschaft „mit der Zwei–Drittel–Gesellschaft ganz zufrieden sind“, weil sie sich auf der besseren Seite wähnen und die andere nicht wahrnehmen wollen. All dies macht die „Mobilisierungsdiskussion schwierig“, obwohl die Gewerkschaften sicher sind, daß ihre Politik der Arbeitszeitverkürzung heute unter den Mitgliedern einen größeren Rückhalt findet als vor dem Arbeitskampf 1984. Damals allerdings betrug der Abstand zur letzten Wahl ein Jahr, konnte also das Wahlergebnis keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Kampfbereitschaft der Mitglieder haben. In diesem Jahr jedoch bangen die Gewerkschafter, daß ihnen ein „triumphaler Wahlerfolg der Koalition die Tarifbewegung in den Arsch haut“. Da bleibt nur noch die Hoffnung auf den „Baden– Württemberg–Effekt“: Dort wählen die Mitglieder die CDU, aber die kämpfen mit der Gewerkschaft.