Die Ungleichzeitigkeit der Lernprozesse

■ Internationale Ausstiegsszenarienaus der Atomkraft sind unterschiedlich weit entwickelt / Ölmulti Exxon setzt Signal: Verkauf des Uran–Geschäfts an KWU ist konzern–interne Ausstiegstrategie / Zukunftsgeschäft mit der Kernkraft schrumpft auf Wartungs–Niveau / Pickelhauben–Mentalität: An keiner Front aufgeben!

Von Lutz Mez

Durch Tschernobyl ist die Energiepolitik - zumindest in der westlichen Welt - nicht nur ins Gerede gekommen. Unter „Gerede“ sind zum Beispiel die diversen Ausstiegsszenarien, von grün bis rot, von sofort bis langfristig, vom nationalen Alleingang bis zur international konzertierten Ausstiegsaktion zu verstehen. Technisch möglich, so das Fazit aller derartigen Überlegungen, ist der Ausstieg aus der Atomkraftnutzung allemal. Es fehlt die politische Mehrheit und vor allem die Macht, um die Betreiber, Hersteller und Finanzierer von Atomanlagen zu zwingen, auf das Atomgeschäft fürderhin zu verzichten. Ein Blick über die Grenzen zeigt, daß in anderen Ländern die verschiedensten Wege eingeschlagen worden sind: In Österreich gilt nach der Volksabstimmung von 1978 das Atomsperrgesetz. In den USA verstärkten sich nach der Beinahekatastrophe in Harrisburg die bereits bestehenden Stagnationstendenzen in der Atomindustrie - seit 1979 ist kein neuer AKW–Auftrag erteilt worden. Schweden hat 1980 per Volksabstimmung den Ausstieg bis zum Jahr 2010 beschlossen. In Italien findet dieses Jahr ein Referendum statt. Dänemark ist gegen den Bau von AKWs und sagt: Strahlende Nachbarn - Nein Danke! Ein langer Lernprozeß, so scheint es, bestimmt, wer wann und wie aus der Atomkraft aussteigt. Ob vor dem nächsten Super–GAU alle wichtigen Akteure von der Notwendigkeit des Ausstiegs überzeugt sind, ist nur zu hoffen. Wenn auch die politischen Systeme der verschiedenen Länder nur sehr langsam in der Atomfrage reagieren, so sind im Bereich der Industrie regelrechte Brüche festzustellen. Zumindest in den Chefetagen der Energiekonzerne tat sich einiges. In den USA wurden bereits drastische Konsequenzen gezogen. Der größte Ölmulti der Welt, die Exxon Corporation, - hier unter dem Benzinnamen Esso bekannt - hat im Dezember 1986 die Uranbrennstoff–Tochter ENC samt Fabrikation in den USA an die Siemens–Tochter Kraftwerk Union (KWU) verkauft. Das bedeutet aber keineswegs, daß der bundesdeutsche Monopolist für den Bau von Atomkraftwerken plötzlich Auftrieb erhalten hat und sich an die Eroberung des US– Marktes für Brennelemente macht. Das KWU–Motiv besteht vielmehr darin, in der Bundesrepublik die Konkurrenzsituation auf dem Markt für die Herstellung von Brennelementen zu beseitigen, um die Preise erhöhen zu können und für den Fall eines Produktionsverbots für Alkem und RBU (an denen KWU mit 60 und die RWE–Tochter Nukem mit 40% beteiligt sind) eine Produktionsstätte außerhalb der Bundesrepublik zu haben, nämlich in den USA. Ausstieg der Ölmultis Wenn Exxon sich von seinem seit über 15 Jahren mühsam aufgebauten Urangeschäft trennt, heißt das jedoch, daß der Ölkonzern der Atomkraft keine Zukunft gibt, trotz weltweit immer noch über 350 Atomreaktoren. Davon stehen in den USA immerhin rund 100 gegenüber nur 20 Atomkraftwerken in der Bundesrepublik. Exxon ging es ferner auch darum, Spielraum für Investitionen in anderen Bereichen oder bei anderen Energieträgern zu erhalten. Der Ölmulti ist nicht der erste US–Konzern, der aus dem Atomgeschäft aussteigt. Schon in den siebziger Jahren haben die amerikanischen Chemieriesen ihr Engagement für die Wiederaufarbeitung beerdigt, weil keine realisierbaren Profite zu erwarten waren. Vor zwei Jahren trennten sie sich auch von den Projekten in der Atomforschung und der Uran–Anreicherung. Deutsche Pickelhauben–Mentalität Die Siemens–Tochter KWU dagegen ist ein Beispiel für die deutsche Pickelhauben–Mentalität. Helm auf, Augen zu und durch die Talsohle, heißt die Parole. Dabei schwelt die Krise bei der KWU schon lange. Neue Bauaufträge gibt es seit Jahren nicht mehr. Bis zum Jahr 2000 rechnet KWU– Chef Barthelt höchstens mit zwei bis drei neuen Atomkraftwerken in der Bundesrepublik - vorausgesetzt, daß der Stromabsatz mit jährlich zwei Prozent steigt. Eine überaus optimistische Erwartung, die angesichts der inzwischen auch bei Elektrizität eingetretenen Stagnation auf Sand gebaut ist. Und ohne Inlandsaufträge gibt es auch keine Exportaufträge. Das heißt, daß die Jobs bei KWU allenfalls bis 1990 gesichert sind, um die laufenden Bauaufträge abzuwickeln. Danach ist nur noch Reparatur und Wartung angesagt. Eine schöne Perspektive für 15.000 Facharbeiter und Ingenieure bei der KWU. Bislang hat der AKW–Service– Bereich der KWU nur 600 Techniker und Ingenieure - nicht einmal fünf Prozent der Belegschaft - beschäftigt. Der Jahresumsatz dieser Sparte betrug 1985 gerade 675 Mio. DM, 20 dem Ausland. Die Hardware– Nachrüstung eines 1.300 MW– Reaktors soll KWU pro Jahr 25 Mio. DM Umsatz bringen. KWU schätzt das Potential auf 80 AKWs in den USA und etwa 25 in Europa, die den KWU–Service beauftragen könnten. Aber diese Erwartung geht davon aus, daß alle AKWs einfach weiterbetrieben werden und 30 oder gar 40 Jahre laufen. Angesichts dieser gar nicht rosigen Aussichten hat der andere Hersteller von AKWs in der Bundesrepublik, die BBC, bereits gepaßt. Außer dem umstrittenen Hochtemperaturreaktor in Hamm–Uentrop hatte der BBC– Konzern nur ein AKW in der Bundesrepublik bauen dürfen, den Reaktor Mülheim–Kärlich, von RWE 1973 in Auftrag gegeben. Bis heute ist er nicht abgenommen. Nur deshalb sind die Beschäftigten der Brown Boveri Reaktor GmbH noch nicht alle entlassen. Ein ähnliches Schicksal wird die KWU–Beschäftigten ereilen, falls nicht bald eine andere Energietechnik als Atomtechnik Priorität erhält. (Lutz Mez arbeitet bei der Forschungsstelle für Umweltpolitik, an der FU Berlin)