Lager–Situation im Libanon spitzt sich zu

■ Der geistige Führer der Hizballah erlaubt eingeschlossenen Palästinensern, notfalls Menschenfleisch zu essen / Frauen, die aus dem Lager Borj al Brajneh mit neun Kindern völlig erschöpft flüchten konnten, berichten über die katastrophale Versorgungslage

Von Beate Seel

Mit jedem Tag werden die Nachrichten über die Situation der in den libanesischen Flüchtlingslagern Raschediyeh, Shatila und Borj al Brajneh eingeschlossenen Palästinensern bedrückender. Am Montag meldete die französische Nachrichtenagentur afp, der geistliche Führer der radikalen Schiitenbewegung Hizballah, Sheikh Fadlallah, habe den vom Hungertod bedrohten Bewohnern von Borj al Brajneh gestattet, im „äußersten Notfall“ Menschenfleich zu essen. Das Komitee des Lagers hatte am Freitag an mehrere islamische Würdenträger appelliert, eine entsprechende „Fatwa“, eine religiöse Anordnung, zu proklamieren. Die Hizballah haben im Lagerkrieg offiziell eine neutrale Stellung eingenommen. In dem Lager Borj al Brajneh südlich von Beirut herrscht eine Hungersnot. Die 20.000 Bewohner sind seit etwa zweieinhalb Monaten durch eine Blockade der schiitischen Amal–Milizen, die von Syrien unterstützt werden, von der Außenwelt abgeschnitten. Am Samstag waren vier Palästi nenser bei dem Versuch getötet worden, mit einem Lastwagen voller Mehl die Blockade zu durchbrechen und Nahrungsmittel in das Lager zu schaffen. Die Bitte um Erlaubnis, Menschenfleisch zu essen, muß sicher als Teil der psychologischen Kriegsführung gesehen werden. Dennoch muß man sich schon in einer katastrophalen Lage befinden, um zu einem derart extremen Mittel zu greifen, im verzweifelten Versuch, die Weltöffentlichkeit aufzurütteln, ehe es zu spät ist. Am vergangenen Mittwoch gelang es fünf völlig erschöpften Frauen mit neun Kindern aus Borj al Brajneh zu fliehen. Ihre erschütternden Berichte bestätigen, daß sich die Überlebensmöglichkeiten in dem Lager immer schwieriger gestalten. Die tägliche Ration an Nahrungsmitteln beschränkt sich ihren Angaben zufolge auf eine Kelle Linsen oder zerstampftem Weizen pro Person. Für viele Bewohner sei aufgefangenes Regenwasser das einzige zur Verfügung stehende Getränk. Da das Leitungssystem zum Teil zerstört ist, besteht Seuchengefahr. Auch ausländische Ärzte, die in Borj al Brajneh arbeiten, hatten am 24. Januar über die zunehmend prekären Verhältnisse in dem Lager berichtet. Die Bevölkerung des südlibanesischen Lagers Raschediyeh, das bereits seit 131 Tagen eingeschlossen ist, gerät ebenfalls in eine zunehmend ausweglose Lage. Wie ein Augenzeuge kürzlich gegenüber der taz (31.1.87) berichtete, ernähren sich die Menschen dort von allem, was wächst, Kräutern, Gräsern, Zwiebeln, Orangen. In diesem Lager sind bereits sechs Säuglinge gestorben, weil das Milchpulver ausgegangen ist. In Raschediyeh leben 17.000 Menschen. In dem seit Ende September andauernden Lagerkrieg sind auch in den letzten 48 Stunden wieder 15 Menschen getötet und 48 verletzt worden. Damit beläuft sich die Zahl der Opfer der offiziellen Zählung zufolge seit Beginn der Gefechte auf mindestens 577 Tote und 2.282 Verwundete. Am Freitag letzter Woche demonstrierten Palästinenser, die außerhalb der Lager lebten, vor verschiedenen libanesischen Institutionen in Westbeirut gegen die Blockade von Borj al Brajneh und Shatila.