D O K U M E N T A T I O N „Sie nehmen meinen nichterklärten Rücktritt an“

■ Joschka Fischers Antwortbrief vom 9. Februar auf seinen Rausschmiß aus der hessischen Landesregierung

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich nehme Ihr Schreiben vom heutigen Tage zur Kenntnis. Dort nehmen Sie meinen nichterklärten Rücktritt an. Ich stimme zu: Dies bedeutet faktisch meine Entlassung durch Sie, und es entspricht weder meiner Art noch der politischen Situation, mich jetzt hinter Verfassungs– und anderen Paragraphen zu verbergen. Um einer Legendenbildung jedoch vorzubeugen, möchte ich klarstellen, daß mir Ihre Regierungserklärung vom 5. November zwar bekannt war, ebenso war Ihnen jedoch meine gegenteilige Auffassung zu dieser Regierungserklärung im Vorfeld der Landtagsdiskussion bekannt. Kennen mußten und müssen Sie auch die Rede des Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Jochen Vielhauer, in der er am 5. November u.a. erklärte: „Was der Ministerpräsident vorhin in seiner Regierungserklärung zur rechtlichen Würdigung der Genehmigungssituation der Hanauer Atomfabriken erklärt hat, ist falsch.“ Herr Vielhauer wies Sie darüber hinaus in aller Klarheit darauf hin, daß der von der SPD in Sachen Hanauer Atombetriebe eingeschlagene Weg „... nicht unbeirrt fortgesetzt werden kann“. Bekannt sind Ihnen darüber hinaus die Briefe, die die Fraktion der Grünen ebenso wie ich selbst an Sie geschrieben haben, nachdem uns aus der Presse bekanntgeworden ist, in welcher Weise ohne Wissen des Koalitionspartners und entgegen dem Koalitionsvertrag zwischen dem Hessischen Minister für Wirtschaft und Technik und dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Genehmigung der Firma ALKEM ausgehandelt werden sollte. Sie können deshalb von dem Beschluß der Grünen–Landesversammlung nicht überrascht sein. Ich bin, wie Sie wissen, ein überzeugter Anhänger der Zusammenarbeit zwischen alter und neuer Reformbewegung und ein Verfechter der ökologisch–sozialen Koalition. Dies setzt allerdings voraus, daß keiner der Partner den anderen zwingt, gegen seine Überzeugung zu handeln. Mit dem von Ihnen mitverantworteten Genehmigungsvorschlag für die Firma ALKEM und dem Bruch des Koalitionsvertrages haben Sie die historische Verantwortung für das Scheitern des von Ihnen selbst mit begonnen Experiments Hessen übernommen. Ich hoffe, daß diese nicht auch die Verantwortung für die Regierungsübernahme von CDU und F.D.P. in diesem Bundesland einschließt. Nach Ihrer Entscheidung halte ich im Sinne der Glaubwürdigkeit ein baldiges Wählervotum für unabdingbar. Die Fraktion der Grünen wird einen entsprechenden Antrag heute im Parlament einbringen. Ich bitte Sie, mir heute um 17 Uhr die angekündigte Entlassungsurkunde auszuhändigen. Trotz alledem wünsche ich Ihnen persönlich alles Gute und baldige Genesung und verbleibe mit freundlichen Grüßen Joschka Fischer