De Morgen: Eine Zeitung gibt nicht auf

■ Der Konkurs war schon beschlossen, aber Belgiens linke Tageszeitung erschien beharrlich weiter / Die Solidarität der Leser machte einen Neuanfang möglich / Eine Zeitung, deren Titelseite nur aus Schlagzeile und einem Foto oder einer Karikatur besteht

Von T. Dersjant und A. Plättner

Gent (taz) - Am vergangenen Samstag war sie wieder einmal in den Schlagzeilen der großen belgischen Medien: De Morgen, die einzige linke Tageszeitung des Landes, wurde von der Kriminalpolizei durchsucht. Die Zeitung war einem Steuerskandal auf die Spur gekommen, bei dem die Verantwortlichen eines Tennisturniers in Antwerpen (“European community championship“) umgerechnet sechs Millionen Mark „gespart“ haben sollen. Jetzt hatte die Turnierleitung die Staatsanwälte wegen „Bruchs des Steuergeheimnisses“ auf die Redakteure gehetzt. Es ist noch nicht lange her, da hatte es so ausgesehen, als würde dem Blatt aus ganz anderen Gründen der Garaus gemacht. Nachdem nämlich der Chefredakteur und Herausgeber, Paul Goossens, am 30. Oktober vergangenen Jahres einen unangenehmen Anruf erhalten hatte, kämpften die Redakteure drei Monate lang gegen die drohende Pleite. Der Anruf kam morgens, kurz vor der Redaktionskonferenz: Die Sozialistische Partei ziehe sich aus De Mor gen zurück, wurde dem verdutzten Zeitungsmacher mitgeteilt. Goossens blieb nichts anderes übrig, als Konkurs anzumelden, denn die flämische Sozialistische Partei (SP) war im Besitz von über 90 Prozent der Aktien. Finanzielle Gründe, so hieß es bei der SP, seien ausschlaggebend für den Ausstieg aus der Zeitung. 70 Millionen Franken (3,5 Mio DM) Schulden seien bei weitem zu viel. Die Erklärung der SP kam überraschend. Seit zwei Jahren befand sich De Morgen nämlich im Aufschwung. Nach einer Krise und einer Umgestaltung der Zeitung war die Auflage um 40 Prozent auf 43.000 Exemplare gestiegen. Bis 1988, so die Meinung des Herausgebers, werde sie aus den roten Zahlen sein. Der eigentliche Grund für den Ausstieg der SP mag denn auch tiefer gelegen haben. Eine aufmüpfige Parteizeitung De Morgen war 1978 aus einer Fusion der beiden Zeitungen Volksgazet (Antwerpen) und Vooruit (Vorwärts; Gent) entstanden. Obwohl finanziell von der SP abhängig, wurde De Mor gen kein Parteiorgan, wie es der Genter Vooruit gewesen war. Frech und originell, unterschied er sich auch radikal von der übrigen Presse Belgiens. Über die schrieb der belgische Journalist Johan Anthierens: „Was Verliebte und Selbstmörder in Baumrinden schnitzen, ist relevanter als das, was belgische Verleger auf zu Papier verarbeitete Stämme drucken.“ Sensationsberichterstattung und Sportreportagen kennzeichnen die Presselandschaft. De Morgen hingegen setzte eigene Schwerpunkte. Die Titelseite besteht immer nur aus einer Schlagzeile über einem großen Foto oder einer Karikatur. Die Titelgeschichte wird dann wie in der französischen Liberation, an der sich De Morgen orientiert, - auf den folgenden Seiten ausführlich behandelt. Da die Titelseiten das Markenzeichen des Morgens sind, wurden letztes Jahr Künstler gebeten, sie zu gestalten. Sie bekamen freie Hand, solange das Kunstwerk Bezug zur Aktualität hatte. So erschien eine Ausgabe mit dem Geburtstagsgruß eines Künstlers an seine Muter. Ein anderer Künstler druckte eine große russische Fahne ab und forderte das belgische Proletariat auf, im Kampf gegen den Imperialismus das sowjetische Team beim Fußball–Länderspiel anzufeuern und gewinnen zu lassen. Auch inhaltlich ließ sich De Morgen nicht so recht zügeln. So hatte sich die SP mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Florennes abgefunden und war deshalb von De Morgen mit einer Karikatur angegriffen worden. „Die SP wollte auch deshalb nicht nach einer Lösung suchen, weil sie sich über unsere Berichterstattung über ihre Politik geärgert hat“, meinte denn auch Paul Goossens. Der Rettungsversuch Nach dem unheilvollen Telefonanruf ist der Entschluß schnell gefaßt: Kaffee, hinsetzen und eine Notausgabe schreiben. Geschickt wird der Konkursverwalter vom Satz fern gehalten, die Fotoplatten werden heimlich zur Druckerei in Brüssel gebracht. Am nächsten Morgen liegt De Moord (der Mord) in den Kiosken. Der redaktionelle Kommentar läßt keinen Zweifel aufkommen: „Wir machen weiter!“ schreibt Paul Goossens. Auch die Leser des Morgen wollen den plötzlichen Tod der Zeitung nicht akzeptieren. Viele kommen empört in die Redaktion, Kinder bringen ihre Sparschweine, Brüsseler Studenten sammeln Geld. Euphorische Reaktionen, aber zunächst weiß niemand, wie es weitergehen soll. Die Journalisten erhalten Sozialhilfe und arbeiten weiter. (Der Arbeitsminister befreit sie sogar von der - in Belgien üblichen - täglichen Stempelpflicht). Es wird soviel gespendet, daß man dem Konkursverwalter am zweiten Pleitetag die Miete für die Druckerei auf den Tisch legen kann. Drei Monate lang liegt das Blatt trotz des drohenden Konkurses jeden Tag am Kiosk. Den wichtigsten Wiederbelebungsversuch starten die belgischen Schriftsteller Hugo Claus und Walter van den Boreck. Mit ihrer Aktion „1.000 x 100.000“ wollen sie tausend Aktien im Wert von jeweils 100.000 Franken (5.000 DM) verkaufen. Außerdem sorgen Feste, Solidaritätskundgebungen und Versteigerungen für einen kontinuierlichen Geldstrom. Große Firmen nehmen De Morgen in ihre Anzeigenwerbung auf. Paul Goossens verhandelt inzwischen mit der Sozialistischen Partei, Verlegern in Belgien und den Niederlanden und sogar mit dem christdemokratischen Ministerpräsidenten Winfried Martens. Schließlich haben die Belegschaft, die Aktion „1.000 x 100.000“ und die SP als Aktionäre genügend Geld zur Verfügung, um die Zukunft der Genter Zeitung sichern zu können. Zu ihrer ersten Versammlung kommen 264 Aktionäre. Die Sozialistische Partei besitzt jetzt nur noch zehn Prozent der Aktien. Insgesamt verfügt die Zeitung über zirka 86 Millionen Franken (4,3 Millionen DM) und damit über eine finanziell gesicherte Position. Momentan scheint das Schiff tatsächlich gerettet zu sein. Und auch die Belegschaft ist voller Selbstvertrauen. Als mitten in der unsicheren Phase des Konkurses einen Tag lang das gesamte Computersystem ausfiel, schrieb man die Zeitung kurzentschlossen mit der Hand und nutzte die Gelegenheit für einen langen Artikel über Graphologie. Auf der Titelseite stand mit dicken Filzstiftbuchstaben: „Wer schreibt, der bleibt“.