I N T E R V I E W „Die Bedingungen haben sich seit 1984 verändert“

■ Willi Hoss, Bundestagsmitglied der Grünen, über die laufenden Kampagnen zur 35–Stunden–Woche und zur Flexibilisierung / Hoss gehörte vor drei Jahren zu den linken Kritikern der IG Metall–Kampagne für die 35–Stunden–Woche / Seine Vorbehalte bleiben weiterhin bestehen, aber er tritt für eine Beteiligung an den Solidaritätskämpfen für die kalt Ausgesperrten ein

taz: Du hast dich vor drei Jahren während des damaligen Arbeitskampfs skeptisch zur 35–Stunden–Woche geäußert. Gilt deine Kritik heute noch genauso? Hoss: Genauso ist sicher nicht richtig. Die Skepsis von damals und heute bezieht sich auf eine isolierte Betrachtung der Kampagne für die 35–Stunden–Woche und gegen die Überhöhung der Bedeutung dieser Arbeitszeitverkürzung. Ich habe jetzt von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Grüne und Gewerkschafter“ ein Papier gelesen: Arbeitszeitverkürzung ist ein zentraler Hebel, um aus den wachstumsorientierten, die ökologischen und sozialen Lebensbedingungen zerstörenden Produktionsweisen ausbrechen zu können. Gegen diese Betrachtung habe ich mich damals gewandt und heute ... Das kann man aber der Gewerkschaft nicht ankreiden. Das ist doch ein innergrüner Konflikt. Es war eine Auseinandersetzung, die innerhalb der Grünen stattfand, wie die Grünen diese Kampagne zu sehen hätten. Es ist aber zweifellos auch in der Gewerkschaft, in der IG Metall ein Druck vorhanden, der zu einer Überhöhung führt, weil man den Sieg davontragen will. Eine Arbeitszeitverkürzung ohne gleichzeitige Bemühungen, Rationalisierungsprozesse aufzuhalten oder zurückzudrängen, kann nicht zu großen Ergebnissen führen. Das ist heute wie damals so. Nur sind jetzt die Rahmenbedingungen durch die Wenderegierung enorm verschärft worden. Mit dem Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz wurde die Möglichkeit geschaffen, die Gewerkschaften ganz empfindlich zu treffen. Es kann nicht mehr die Aufgabe allein der Gewerkschaften sein, diese Rahmenbedingungen zu verändern oder zu verhindern, was die konservative Regierung zusammen mit den Unternehmern erreichen will. Das darf nicht durchkommen, weil es auch Konsequenzen hat für andere gesellschaftliche Organisationen, die an einer Änderung der Verhältnisse interessiert sind. Noch mal zurück zum Inhaltlichen der 35–Stunden–Woche. Wenn sie auch mit Ökologie nicht sonderlich viel zu tun hat: Ist sie nicht dennoch ein zentraler Bestandteil einer solidarischen Krisenpolitik? Steinkühler hat in Dortmund gesagt, daß die beschäftigungspolitische Krise auf zwei Ebenen bewältigt werden muß. Das ist einmal eine wirtschaftspolitische Offensive, um Arbeitsplätze zu schaffen und zum zweiten eine tarifpolitische Offensive zur Arbeitszeitverkürzung. Wir denken ja, daß dies in engem Zusammenhang steht mit dem Umbau der Gesellschaft. Wir gehen davon aus, daß dabei gleichzeitig Arbeitsplätze etwa im Energiebereich geschaffen werden ... Aber auch wegfallen ... Unter dem Strich wird es ein Mehr an Arbeitsplätzen geben, weil zugleich bestimmte Rationalisierungsprozesse, die zur Freisetzung von Arbeitskräften führen, gestoppt werden. Hast du die Politik der IG Metall nach dem 38,5–Stunden–Kompromiß, also den Versuch, die unternehmerische Flexibilisierung innerhalb der Betriebe einzudämmen, für richtig gehalten? Damals wie heute ist das entscheidende Problem: Wer bestimmt über die freiwerdende Zeit? Damals hat es innerhalb der Betriebe diesen Kampf gegeben. Die Unternehmer drängen auf Vergrößerung der Nutzungszeit, drängen darauf, daß die Flexibilität darin besteht, daß die Arbeiter und Angestellten sich den Maschinen anpassen. Diese Bemühungen der IG Metall haben wir voll unterstützt. Es sieht jetzt so aus, daß diese Frage noch eine entscheidendere Bedeutung bekommen wird, weil die Unternehmer die Katze aus dem Sack gelassen haben. Sie sind ganz radikal für eine Flexibilisierung in dem Sinne, daß die totale Anpassung der Arbeitnehmer an die Maschinerie durchgesetzt wird. In diesen Punkten hat doch die IG Metall die Argumentation von kritisch–progressiven Leuten aufgenommen. Ich würde nicht sagen, daß sie das übernommen haben. Wenn im Betrieb die Pausen durchgefahren werden sollen oder der Unternehmer allein bestimmen will, wann die Freischichten genommen werden dürfen, dann entsteht im Betrieb ein solcher Druck, daß die Gewerkschaft zum Handeln gezwungen ist. Franz Steinkühler wollte in der damaligen Tarifrunde noch den Samstag preisgeben. Da hat er einen totalen Rückzieher gemacht. Das ist sicher zurückzuführen auf den Druck von unten. Wie stehst du heute zur Flexibilisierung? Die IG Metall war während der letzten Auseinandersetzung noch bestrebt, die kollektive Art der Arbeitszeitverkürzung zu favorisieren. Sie bot weniger dem einzelnen Arbeitnehmer die Möglichkeit, über die freie Zeit selbst zu verfügen, oder jedenfalls mitzubestimmen. Da hat auch eine Wandlung stattgefunden in eine Richtung, die den einzelnen mehr Möglichkeiten läßt, über ihre zusätzliche freie Zeit zu bestimmen. Man gesteht jetzt den einzelnen Betriebsräten die Möglichkeit zu, über die Zeitgestaltung mitzubestimmen. Wir gehen da noch weiter: der einzelne Arbeitnehmer muß die Möglichkeit haben, selber zu bestimmen, damit die einzelnen Leute ihr Leben anders organisieren können. Die Verschiebung der gewerkschaftlichen Argumentation zu Aspekten der Lebensqualität müßte doch eigentlich in eurem Sinne sein? Diese humanitäre Sicht in bezug auf Entlastung vom Arbeitsdruck usw. hat es schon früher gegeben. Die Veränderung besteht darin, daß diese humanitären Anliegen mit individuellen Möglichkeiten in Zusammenhang gebracht werden können. Die Belastungen drängen heute danach, daß der einzelne Möglichkeiten sucht, sich individuell Entlastung zu verschaffen. Das geschieht in der Auseinandersetzung mit der Absicht des Unternehmens, die Leute mit dem Computer auf die Staße zu setzen, einen am Mittwoch, den anderen am Donnerstag usw. Da die Betriebe weitgehend computerisiert sind, ist heute aber auch die Möglichkeit gegeben, den Produktionsablauf so zu organisieren, daß die individuellen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Eine deiner Kritiken vor drei Jahren war, daß die 35–Stunden–Woche von der Kritik am Inhaltlichen der Arbeit ablenkt. Das muß man auch he Arbeitszeitverkürzung zufriedengeben. Wenn es zum Arbeitskampf kommt: Was müßte die Politik der Grünen dabei sein? Wir werden hier im Bundestag unsere Gesetzentwürfe zum Verbot der Aussperrung und zur Arbeitszeitordnung neu einbringen. Wir werden alles, was flankierend zur Stützung dieser Tarifrunde von Bonn aus möglich ist, tun. Bist du dafür, daß die Grünen sich an den Solidaritätskomitees für die Ausgesperrten beteiligen? Ich bin unbedingt dafür, sich auf allen Ebenen an dieser Kampagne, wo sich Personen, Parteien, Organisationen mit den Ausgesperrten solidarisieren, zu beteiligen. Interview: Martin Kempe