Notstand Volk

■ Eine große Koalition für Volkszählung

Eindrucksvoller als in den letzten Tagen hätte eine große Koalition aus Partei–, Gewerkschafts– und Kirchenspitzen gar nicht deutlich machen können, daß es bei der geplanten Volkszählung längst nicht mehr um die Zählung geht, sondern um das Volk. Nicht die fehlenden statistischen Daten haben Parteien und gesellschaftliche Institutionen bis hin zu den Sparkassen zu einmütigen Bekenntnissen bewegt, wie wir sie sonst bestenfalls aus Notstandszeiten kennen. Keine andere staatliche Maßnahme der letzten Jahre ist jemals mit einem solchen Werbeaufwand betrieben worden wie jetzt die Volkszählung. Nicht die „Terrorfahndung“ im Herbst 77 oder das Katastrophenthema AIDS haben eine regel wollen. Ein Staatsakt, der legitimiert, diejenigen mit Repressalien zu überziehen, die sich ihm aktiv widersetzen. Ginge es nur um ein paar Statistiken, dieser ganze Aufwand wäre sein Geld und seine Energie nicht wert. Das wissen die Vertreter dieser großen staatstragenden Koalition sehr wohl. Doch sie wissen auch: ohne Zählung läßt sich zwar in diesem Land so recht und schlecht (fehl–)planen wie bisher. Aber ohne Volk läßts sich verdammt schwer regieren. Die Anstrengung, mit der man sich um die verlustig gehende Loyalität dieses Volkes bemüht, mag der Boykottbewegung als realistische Einschätzung der eigenen Stärke erscheinen. Allerdings ist diese Stärke brüchig. Denn bei allem Unwohlsein gegen die Datensammelei sollte nicht unterschätzt werden, daß etwas anderes den Deutschen noch viel größeres Unwohlsein bereitet: gegen staatliche Ordnung zu verstoßen und gegen den Strom zu schwimmen. Vera Gaserow