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Jacques Chirac sitzt in der Klemme

■ 30.000 auf Demo in Paris gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz der konservativen Regierung / Zugleich sollte aber auch des einjährigen Regierungsjubiläums des angeschlagenen Premierministers gedacht werden / Ein Demonstrant: Ein Jahr Cohabitation ist zu viel“

Aus Paris Georg Blume

Einen Grund zum Demonstrieren gibt es an diesem kalten Märzsonntag eigentlich nicht mehr. Kaum jemand, weder der überzeugte Antirassist noch der unerschüttliche Chirac–Treue will mehr glauben, daß die französische Regierung heute noch in der Lage ist, jenen umstrittenen Gesetzentwurf durchzusetzen - den sogenannten „Code de la nationalite“ - mit dem man den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft für Ausländer erschweren will. Und dennoch sind gestern fast 30.000 Franzosen dem Demonstrationsaufruf von „sos racisme“ und anderen Antirassismus– und Soldidaritätsgruppen gegen den „Code de la nationalite“ gefolgt. Das erste Mal seit den Studentenunruhen im Dezember war der Platz der Bastille wieder von der Menge eingenommen. Welche Erklärung mag es da geben? „Nach dem Frühling im Dezember wollen wir den Frühling nicht zum Winter machen“, sagt mir ein Student. Sicherlich, der Frühling, der schon lange da sein müßte, regt Erwartungen. Die eigentliche Erklärung aber gibt ein älterer Sozialist: „Wir feiern den Geburtstag von Chirac.“ Dafür sind sie alle gekommen und das in seltener Einheit: Schüler und Studenten, Menschenrechtler und Gewerkschafter, Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten. Jacques Chirac feiert heute ein bitteres Jubiläum. Vor genau einem Jahr, am 16. März 1986 gewann die Rechte bei den Parlamentswahlen die Macht zurück. Als Chef der gaullistischen RPR, der stärksten Partei der seither mehrheitsfähigen Rechten wurde er zwei Tage später von Präsident Mitterrand zum Premierminister ernannt und regierte ab sofort das Land. Die Franzosen merkten schnell, was im Ausland - gerade in der Bundesrepublik - unter dem Renommee und der Aura Mitterrands lange Zeit verborgen blieb: Jacques Chirac war der neue starke Mann in Frankreich. Ein Jahr später steht derselbe Mann mit angeknackstem Image vor den Demonstranten auf dem Platz der Bastille. Sie wissen: Der Premierminister hat bereits alles für ihn mögliche getan, um ihre Wünsche im Voraus zu befriedigen. Er ließ die parlamentarische Beratung des umstrittenen Gesetzentwurfs in den Herbst verlegen, er kündigte Änderungen der Vorlage an, er versprach den verschiedenen Menschenrechts– und Ausländerorganisationen den direkten Dialog mit der Regierung. Bei Beginn der „Cohabitation“, der Zusammenarbeit von einem rechten Premierminister und einem linken Präsidenten an der französischen Staatsspitze, hatte Chirac in Mitterrand seinen schärfsten Gegner vermutet. Wohlwissend, daß er im taktischen Spiel um die Macht dem Präsidenten nichts entgegenzusetzen hätte, setzte Chirac auf sein Regierungsprogramm. Immer mehr Reformen, immer mehr neue Gesetze konnten die Ohnmacht Mitterrands offenbaren und verfehlten diese Wirkung nicht. Chirac hatte Erfolge: die blutige Pariser Attentatswelle im September 1986 rechtfertigte für viele seine rigorose Politik der inneren Sicherheit, die Privatisierungen der großen Staatsbetriebe - Kern stück des Chiracschen Wirtschaftsprogramm - fanden Zuspruch in der Bevölkerung, als man die Aktien der Betriebe im ganzen Land verkaufte. Wie dem auch sei, diese Erfolge zählen nicht mehr. Die Niederlage der Regierung unter der Studentenre volte hinterließ einen Premierminister, der nicht mehr programmatisch erneuernd regiert, dem es vielmehr seither überlassen ist, die Regierungsgeschäfte aufs beste bis zu den Präsidentschaftswahlen im Mai 1988 zu führen. Heute weiß Jacques Chirac, daß auch ein guter Verwalter der Regierungsgeschäfte noch keinen glaubwürdigen Präsidentschaftskandidaten macht. Schon verbuchen die Meinungsumfragen eine deutliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses rechts–links von 55 zu 45 % bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr auf heute 52 zu 48 Schon ist der rechte Präsidentschaftskonkurrent Chiracs, Raymond Barre, dem Premierminister in allen Umfragen voraus. Schon häuft sich innerhalb der rechten Mehrheitsfraktion im Parlament oder gar bei einigen Ministern die Kritik an der Regierungspolitik. Noch steht die Antwort des Präsidentschaftskandidaten Chiracs auf diese Entwicklungen aus. Gegen die Demonstranten wird sie nicht erfolgen. Das belegte der gestrige Tag. Gegen Mitterrand schon eher. Seit einigen Wochen verstärkt die Regierung die Polemik gegen den Präsidenten. Doch haben die beiden Kontrahenten der Cohabitation bisher immer nur dann in den Augen der Öffentlichkeit profitiert, wenn sie sich einig waren. Das Spiel mit Mitterrand ist für Chirac selbst am gefährlichsten. So überlegt man heute bereits in Regierungskreisen den vorzeitigen Rücktritt Chiracs. Er würde seinem jetzigen Wirtschafts– und Finanzminister Balladur die Geschäfte übergeben und freie Hand für den Wahlkampf haben. Dabei aber muß Mitterrand mitspielen, der den Premierminister ernennt. Ein Demonstrant dürfte dem Premierminister aus dem Herzen gesprochen haben: „Ein Jahr Cohabitation ist zuviel. Aber was kommen soll, weiß ich auch nicht.“

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