: Neue Hoffnung für sowjetische Juden
■ Gorbatschows Reformpolitik schließt endlich auch die jüdische Minderheit ein / Viele Juden wollen ausreisen und wenige auch schon wieder zurück in die Sowjetunion / Doch eine liberale Ausreisepolitik bedeutet noch nicht die Normalisierung für die jüdischen Sowjetbürger
Von Martin Pollack
Die Meldung eines Vertreters des World Jewish Congress sowjetische Stellen hätten in Gesprächen in Moskau zugesagt, noch in diesem Jahr allen ausreisewilligen sowjetischen Juden ein Visum zu geben und insgesamt etwa 12.000 Menschen auswandern zu lassen, signalisierte eine fundamentale Änderung der bislang ziemlich restriktiv gehandhabten Ausreisepolitik der Sowjetunion gegenüber der jüdischen Minderheit. Daß ein Sprecher des Außenministeriums in Moskau diese Zahlen wenig später relativierte und meinte, man müsse erst abwarten, wieviele Ausreiseanträge tatsächlich gestellt würden, sorgte für einige Verwirrung, aber es bleibt doch der Eindruck bestehen, daß die Reformpolitik Gorbatschows auch vor der jüdischen Frage nicht halt macht, die der Sowjetunion in der Vergangenheit so viel internationale Kritik eingetragen hat. Zur selben Zeit scheint es auch eine Belebung der Kontakte zwischen Moskau und Tel Aviv zu geben. Die Emigration der sowjetischen Juden begann im Jahre 1968, als unter Breschnew eine antizionistische Kampagne gestartet wurde, die mehr oder weniger offen antisemitische Züge trug. Ähnliches geschah übrigens in Polen, mit dem wesentlichen Unterschied, daß die polnischen Kommunisten die überwiegende Mehrheit der kleinen jüdischen Minderheit aus dem Land trieben, während die Sowjetunion die Ausreisegenehmigungen für die insgesamt mehr als zwei Millionen Juden, die über verschiedene Republiken verstreut leben, ziemlich vorsichtig dosierte. Zwischen 1968 und 1970 erhielten 3.600 sowjetische Juden die Erlaubnis, das Land zu verlassen, 1971 waren es knapp 13.000, 1979 gar 51.000. Seither ist diese Zahl aber kontinuierlich gesunken - 1986 durften nur 943 Juden aus der Sowjetunion ausreisen. Der nun einsetzende April–Frühling, wie ein sowjetischer Funktionär kürzlich den Reformkurs Gorbatschows genannt hat, was sicher nicht unbeabsichtigt die Erinnerung an den Prager Frühling wachrief, hat nicht nur in jüdischen Kreisen in der Sowjetunion neue Hoffnungen keimen lassen. „Wir wissen nicht, was die Reformpolitik Gorbatschows für uns bringen wird, aber wir sind zum ersten Mal seit langem wieder op timistisch“, sagt Viktor K., der mit seiner Frau und zwei halbwüchsigen Töchtern vor zwölf Jahren aus der Sowjetunion emigriert war und drei Jahre später wieder in der sowjetischen Botschaft in Wien stand und ersuchte, man möge ihm die Rückreise ins heimatliche Kiew gestatten, er könne sich in Israel nicht einleben und bedaure seinen Entschluß zutiefst. Seit damals wird Viktor K., ähnlich wie Dutzende anderer rückreisewilliger sowjetischen Juden, vom Botschaftspersonal entweder schon am Tor barsch abgewiesen, oder freundlich vertröstet, je nach der jeweiligen politischen Lage. Viele haben sich in das scheinbar Unvermeidliche gefügt und in der ungeliebten Fremde Arbeit und auch eine gewisse Integration gefunden, die Kinder gehen in Österreich in die Schule und sprechen manchmal schon besser Deutsch als Russisch. Viktor aber läßt seinen Traum nicht fahren, doch noch einmal Kiew wiederzusehen, obwohl seine Töchter und seine Frau Ludmilla keinen Zweifel daran lassen, daß sie viel lieber in Österreich bleiben würden. Nicht, daß sie den angeblichen oder realen Antisemitismus in der Sowjet union fürchten, aber die Töchter haben hier ihre Freunde. „Ich habe gehört, daß es in ganz Kiew keine einzige Disco geben soll, sagt die dreizehnjährige Irina ungläubig, Viktor brummt nur unwillig etwas, was nach rodina, Heimatland klingt. Wie auch immer die Entscheidung der sowjetischen Behörden ausfallen wird, ob sie die angekündigten 12.000 Juden ziehen lassen und andererseits Viktor und seiner Familie die Rückreise erlauben oder nicht, eines steht fest: Eine liberale Ausreisepolitik allein kann noch keine Normalisierung der jüdischen Frage bedeuten, die immer so etwas wie ein Barometer der sowjetischen Innenpolitik war. Dazu braucht es eine offene und kritische Sicht der Vergangenheit und die Möglichkeit, über Dinge zu reden, die seit Jahrzehnten tabu sind. Es sei notwendig, im Gefolge der „Politik des Umbaus“ „viele Tatsachen und Entwicklungen mit ruhigerem Blick und ohne Scheuklappen und Dogmatismus“ zu sehen, erklärte der Doyen der sowjetischen Geschichtswissenschaft, der 91jährige Isaak Minz, in einem Interview mit der TASS. Das gilt auch für die oft bitteren Erfahrungen der Juden in der Sowjetunion, vor allem in den Jahren des Stalinismus. Man denke nur an den „Kampf gegen den Kosmopolitismus“ in den letzten Lebensjahren Stalins, dem die Blüte der jüdischen Kultur zum Opfer fiel. Damals wurden mehr als 200 Schriftsteller, über hundert jüdische Schauspieler, Filmregisseure usw. unter fadenscheinigen Vorwänden vor Gericht gestellt und ermordet. Die im Jahre 1934 offiziell etablierte Jüdische Autonome Region im sowjetischen fernen Osten mit der Hauptstadt Birobidschan (nach der sie oft benannt wird) blieb zwar unangetastet, aber eine dynamische Entwicklung fand wohl nur in Propagandabroschüren statt, in Wahrheit war Birobidschan nie viel mehr als ein Argument gegen den Vorwurf des offiziellen sowjetischen Antisemitismus, und kein sehr überzeugendes. In den vergangenen Wochen ist es in Moskau und Leningrad immer wieder zu Demonstrationen ausreisewilliger Juden, sogenannter refusniks, gekommen, die sich oft derbe antisemitische Beschimpfungen von Passanten anhören mußten. Ob diese Zwischenfälle vom Geheimdienst inszeniert wurden oder ob hier spontane Gefühle zum Ausdruck kamen, läßt sich schwer sagen, vorstellbar ist sicherlich beides. Die sowjetischen Behörden versuchen, die Vorwürfe von seiten des Westens zu parieren, indem sie darauf hinweisen, daß immer mehr Sowjetbürger, die in früheren Jahren emigriert seien, Rückwanderungsanträge stellten. Zugleich würden aber auch zahlreiche Ausreiseanträge noch vor ihrer Erledigung zurückgezogen, auch von Juden. Eine Behauptung, die sich freilich schwer nachprüfen läßt. Das läßt erwarten, daß man sich in Moskau bald wieder des Häufchens geduldig ausharrender Juden entsinnen wird, das in Wien auf die Erlaubnis zur Heimkehr wartet. Viktor K. hat also gute Chancen, tatsächlich in absehbarer Zukunft sein geliebtes Kiew wiederzusehen. Was aber die dreizehnjährige Irina und ihre um ein Jahr jüngere Schwester Raissa dazu sagen werden, steht auf einem anderem Blatt. Irina ist hier in Wien Mitglied einer jüdischen Jugendorganisation. Ob er glaube, daß eine solche Organisation unter Gorbatschow auch in der Sowjetunion zugelassen werde, frage ich Viktor. Er schüttelt den Kopf.
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