Ein zweiter Atommeiler für Polen

■ Standort 250 Kilometer östlich von Berlin / In alten Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg sollen radioaktive Abfälle gelagert werden In Polens Untergrund immer mehr Anti–AKW–Literatur / Der Gestank der Braunkohle als Argument für die Vertreter der Atomenergie

Von Wolfgang Schenk

Berlin (taz) - Jetzt ist es amtlich. Polen wird ein zweites Atomkraftwerk bauen. Die Arbeiten am ersten polnischen Atommeiler werden derweil trotz Protesten aus der Bevölkerung bei Zarnowiec (nördlich von Gdansk) fieberhaft vorangetrieben - das Werk soll bereits 1990 mit einer installierten Leistung von 1.760 MW aus vier Kraftwerksblöcken ans Netz gehen. Beim zweiten AKW haben die Verwaltungsbehörden der polnischen Provinz Pila sich für einen Standort 250 Kilometer östlich von Berlin entschieden. Zwischen den Flüssen Warthe und Notec bei dem Dorf Klempicz geplant, wird das AKW „Warta“, mit vier sowjetischen 1.000–MW–Leichtwasserreaktoren ausgestattet, insgesamt 4.000 Megawatt Strom liefern. Der so erzeugte Strom entspräche etwa einem Siebtel der gesamten heutigen Stromproduktion in Polen. Diesen Standort zu finden ist den polnischen Behörden nicht leichtgefallen. Denn zunächst sollte das Kraftwerkprojekt in Karlowo realisiert werden. Dieser Plan, wie auch die Alternative bei Plock, stieß auf heftige Proteste von Bevölkerung und Fachleuten, also entschied man sich für Klempiec. Daß die Menschen dort von dieser Entscheidung begeistert sind, ist kaum anzunehmen, denn der Plan sieht die Umsiedlung der Bevölkerung von 29 Bauernhöfen vor. Auf einer Fläche von einer Quadratmeile werden dann die Anlagen installiert; ein Wasserreservoir von weiteren 175 Hektar ist für die Kühlung des AKWs vorgesehen. Neue Eisenbahnlinien und Straßen, die Errichtung einer Überlandleitung in die DDR - die offenbar einen Teil des erzeugten Stroms abnehmen wird - sorgen für die Zerstörung eines noch relativ intakten Waldgebiets. Aber nicht nur die direkten ökologischen Folgen des Baus machen polnischen Kritikern Angst. Polen, so ihre Argumentation, werden nicht einmal die „westlichen“ Sicherheitsstandards einhalten. Wie verantwortungslos die Behörden mit den Risiken der Atomenergie umgehen, zeigt sich nach Meinung der polnischen Umweltschützer auch daran, daß das erste AKW in Zarnowiec auf Sandbo den gebaut wird. Im Dezember 1986 berichtete der schwedische Rundfunk, daß die Betongrundplatte des Werkes große Risse und Sprünge aufweise und immer wieder ausgebessert werden müsse. Die Kosten des Milliardenbaus hätten sich bereits verdoppelt. Das was andernorts als „Restrisiko“ der Atomenergie gehandelt wird, erhöht sich hier noch zusätzlichdurch Mängel,in der Bauplanung und Trunkenheit am Arbeitsplatz. Seit 1983 sollen Pläne existieren, Teile des schwach– und mittelstark radioaktiven Abfalls in alten deutschen Militärbunkern bei Miedzyrzecz, 60 km östlich von Frankfurt an der Oder, zu lagern. In diesen alten Festungsanlagen, die Hitler als eine Art „Ostwall“ bauen ließ, deren Betonmauerwerk aber heute feucht und an vielen Stellen durchlässig geworden ist, sollen nach bisher unbestätigten Berichten auch westliche Atombetreiber ihre Abfälle loswerden können. Auch in der Volksrepublik hat der Widerstand gegen den Ausbau der Atomenergie begonnen. Gruppen wie „Freiheit und Frieden“ organisierten gleich nach dem Gau in Tschernobyl Proteste und verlangten eine umfassende Aufklärung sowie stärkere Sicherheitsmaßnahmen. In Bialystok unterschrieben 3.000 Menschen eine Petition, in der die Unterbrechung der Arbeiten in Zarnowiec gefordert wurden. Die in den Untergrundverlagen erscheinenden Übersetzungen von Anti– AKW–Büchern, darunter auch Texte aus Westdeutschland, haben reißenden Absatz. Doch trotz dieser Aktionen und des Interesses an kritischer Literatur darf nicht übersehen werden, daß aufgrund der hohen Luftverschmutzung durch Braunkohlekraftwerke in der DDR und in Polen selbst die Propagandisten der Atomkraft die „Alternative Atomkraft“ bei einem Großteil der polnischen Bevölkerung noch gut verkaufen können.