Das Fernsehen ist das Ereignis

■ Die Filmfestspiele in Cannes sind mehr und mehr eine Inszenierung für die Medien

„Das Fernsehen“, sagt Gerard Lefort, einer der drei Kritikerstars von Liberation, „ist dabei, allmächtig zu werden. Dies ist kein Festival des Films mehr, es ist ein Festival des Fernsehens. Sehen Sie sich die Leute auf der Straße an, wen sie wiedererkennen: Yves Mourousi, der die Acht–Uhr–Nachrichten von TF1 moderiert, ist heute populärer als Catherine Deneuve oder Gerard Depardieu.“ Gut die Hälfte der 3.200 beim Pressedienst Akkreditierten kommt vom Fernsehen: Kabelträger, Ingenieure, Ton– und Lichtleute, Regisseure, Moderatoren, Kritiker - 120 Teams, und es werden jedes Jahr mehr. Gerade in Frankreich macht das Fernsehen eine rasante Entwicklung durch. Eine der drei öffentlichen Ketten wird privatisiert, es gibt ein Pay–TV und einen kommerziellen Sender billigsten Zuschnitts. Fürs Festival gibt es ein Extra–Programm, das nur in Cannes sendet. Cannes ist in Frankreich eines der größten Ereignisse des Jahres, mit nichts in Deutschland zu vergleichen, schon gar nicht mit den Berliner Filmfestspielen. Viele Festivalfilme starten noch am Abend der Galapremiere in Pariser und Provinzkinos, so profitiert die Wirtschaft vom Ereignis, die Verleiher können sicher sein, von der Kritik bedient zu werden, und das Publikum hat ein bißchen das Ge fühl, an dieser sorgsam gestylten, hysterischen Fete teilzuhaben, nichts ist wichtiger als dieses Styling, die Freitreppe des Bunkers und die strengstens observierte Kleiderordnung der Premieren. Es scheint, als existiere tatsächlich ein Ereignis außerhalb der Medien. Aber Cannes ist 100 Prozent Synthetik. Lefort: „Das Fernsehen hat hier die Macht übernommen, und es wird den französischen Film zerbrechen. Das Fernsehen braucht Cannes, so wie es die Filme braucht. Ohne Filme kein Publikum und keine Werbeeinnahmen. Aber es ist ein Parasit. Es saugt die Filme aus und gibt ihnen nichts zurück.“ Trotz alledem: In Cannes selbst, für die Festivaliers, ist das Fernsehen nicht so wichtig. Es ist nicht die Instanz, die einem sagt, welche Filme man gesehen haben muß. Das ist die Chance der Zeitungen, die Chance, die Liberation am raffiniertesten nutzt. Gerard Lefort kennt seine Macht: „Wir werden viel gelesen und viel gehaßt.“ Fünf oder sechs Cannes–Seiten bringt Liberation täglich. Die Equipe besteht aus drei Kritikern, zwei Reportern, einer Photographin mit Assistent, einer Journalistin, die sich nur mit dem 40. Jahrestag des Festivals beschäftigt; einen Chef vom Dienst, einer Redaktionssekretärin und zwei Journalistinnen, die ausschließlich für das überaus beliebte Bildschirm–Text–System Minitel arbeiten. Umfang und Apparat der Berichterstattung sind nicht größer als bei den Konkurrenzblättern auch. Aber die werden hier nicht halb soviel gelesen. Der Grund für diesen Erfolg liegt bestimmt nicht einfach in der Idee, die sie, wie Lefort erklärt, zu jedem einzelnen Film entwickelt, was gar nicht so leicht sei (“Und wenn ein Regisseur wie Rosi keine Idee hat, dann machen wir eben eine für ihn“). Liberation pflegt, ähnlich wie der Spiegel in Deutschland, einen eigenen Sprachgestus. Sie präsentiert ihre Artikel nicht im seriösen Verlautbarungston, sondern spickt sie mit Wortspielen, Neolingismen, Abkürzungen, Anspielungen und Slang und gibt ihnen so etwas Vertrauliches, Insiderhaftes und Indirektes, so als würden sie jedem einzelnen Leser gewissermaßen unter der Hand mitgeteilt. Und es ist ja auch ein Insiderblatt, die Postille des Pariser Intellektuellenmilieus, das sich die Libe als allmorgendliches „fast food“ reinzieht. Zwei Seiten der täglichen Cannes–Berichterstattung widmet Liberation allein der Präsenz des Fernsehens. Liberation ist halt immer um eine Windung überdrehter als die Anderen. Thierry Chervel