Ware, nichts als Ware

Ein Mann küßt eine Frau in Großaufnahme. Die Kamera fährt ein wenig zurück, und wir sehen einen dünnen Speichelfaden zwischen den beiden Lippenpaaren hängen. Eine Szene aus Diane Keatons selbstgemachtem Film Heaven, zu dem sie sogar höchst persönlich erschien, was aber nicht weiter auffiel, weil noch so viele andere da waren... Dieser Film zeigt uns in schicker Clip–Machart, was wir schon immer wissen wollten: Die Amerikaner sind doof. Das kann sie ja finden, aber warum macht sie so einen langen Film über Leute, von denen sie immer wieder nur zeigen will, wie lächerlich sie sind? Am Tag zuvor Louis Malle, der europäische Adlige mit dem weiten Herzen und der leisen Stimme: Pursuit of Happiness läßt ebenfalls Amerikaner von ihren Visionen erzählen, aber läßt sie auch wirklich erzählen, ohne ihnen Sätze abzuschneiden und sie zu denunzieren, und selbst wenn sie Scheiß erzählen, mag man sie immer noch. Der Franzose an sich entpuppt sich hier meistens als äußerst abscheulich, fast deutsch, und deshalb treffen sich die meisten Deutschen auch am liebsten entre nous in der Bar Majestic, wenn nicht gerade ein schicker Empfang ansteht. Gegen Cannes ist Berlin die reine Freude, weil dort die Demonstranten noch wissen, was Demonstrieren heißt. Hier latschen Clochards und Arbeitslose in schlapper Aufstellung an den Stränden entlang, und nur der Mann im Anführerwagen singt Lieder, die an alte Arbeiterwohlfahrtsferienlager erinnern. Jeden Tag kommt mindestens einer vorbei, dem gerade sein Portemonnaie - „Nur die Scheckkarte drin, kann ja keiner was mit anfangen“ (stimmt, aber er mit seinen Solo–Schecks jetzt auch nicht mehr) - geklaut worden ist, und alle drumrum sagen, „Ja, Cannes ist ein übles Pflaster“. Gerne wird auch hier und dort mitgeteilt, wer wem Geld schuldet und immer wieder fallen die gleichen Namen, von denen man aber doch mit Sympathie, ja geradezu Bewunderung spricht: daß sie es immer wieder schaffen... Für Kinoliebhaber kann es keine größere Desillusionierung geben als dieses Festival: Nirgendwo wird so erschreckend deutlich, daß es sich bei Zelluloid um eine Ware und nichts als Ware handelt, nirgendwo wird so wenig über Filme und so viel dummes Zeug geredet. „Meistens kommt der Anfall nach acht Tagen“, wissen die Erfahrenen und pilgern zum Strand. Dort kann die Dauerkrise sich nur verschärfen. Nach fünf Minuten hast du Titel, Regisseur und Inhalt des soeben Gesehenen vergessen, bis auf die wenigen Ausnahmen natürlich. The Wales of August von Lindsay Anderson (Brittania Hospital) mit den wundervollen großen Damen Lillian Gish und Bette Davis, deren erster Auftritt dich atemlos macht - vor soviel Würde und Disziplin der Davis, die sich scheinbar erst gerade von einem Schlaganfall erholt hat, wie ihre etwas nach unten gezogene, steife Gesichtshälfte vermuten läßt. Und Lillian Gish, noch immer so schön und unschuldig wie zu Griffith Zeiten, ist die liebe Omi, die jeden August aufs Neue nach den Walen über den Klippen Ausschau hält, während die blinde Schwester Davis in bekannter Tradition dazwischen nörgelt. Ein warmer, ruhiger Film, getragen von unaufdringlicher Darstellung, ganz anders, als man es vom frechen Anderson erwartet hätte... Ebenfalls ein Kinoerlebnis waren I ve heard the mermaid singing aus Kanada, eine Frauengeschichte mit einer urkomischen Hauptdarstellerin, ganz low–budgetmäßig und, wie Gisela meint, ein Festivalfilm, nichts für die kommerzielle Auswertung... Da möcht ich aber schwer drum bitten! oder auch Wish you were here aus England, mit endlich einer Madonna, so wie wir sie immer haben wollten, jung, blond, sexy und trotzig, die am Meer aufwächst und sich gegen kleinstädtische Miefmoral zur Wehr setzt. Bis dahin war noch alles paletti, aber als sie am Ende glücklich ein uneheliches Kind bekommt, wurden die meisten Frauen doch böse. Wogegen zu halten wäre, daß es uns nicht darum gehen kann, bekannte böse Realitäten noch mal bestätigend im Kino zu sehen... Wieviel schöner wäre es doch, wenn wir nach dem Kinderkriegen gelbe Kleider, ein eigenes Häuschen und beste Laune hätten... Renee Zucker