Eine Palme für Wim Wenders

■ Wenders „Der Himmel über Berlin“ hat die Festspiele endlich auf die Palme gebracht

Natürlich kriegt er die Trophäe nicht. Denn er hatte schon eine für „Paris, Texas“ bekommen. Aber er hätte sie verdient. Gestern lief die Uraufführung von „Der Himmel über Berlin“, kurz darauf eine kleine Sensation: Die Canon–Group kündigte für 14.30 Uhr eine z der Tavianis, waren enttäuschend; die Franzosen hatten von vornherein nur die zweite Garnitur ins Rennen geschickt. Godard wird sie retten. Heute läuft Fellini, morgen gibts die Palme. Vermutlich gewinnt Abuladse sie für „Die Reue“, einen eiteren Glasnost–Streifen. Uns geht es heute um Wenders Liebesgeschichte zwischen einer Trapezkünstlerin aus dem Berliner Tempodrom und einem vom Himmel gefallenen Engel. Außerdem zieht Renee Zucker eine Zwischenbilanz der Festspiele.

Nur Engel dürfen wohl in der Staatsbibliothek Berlin an den Regalen entlangspazieren, ohne vorher den Mantel abgelegt zu haben. Sie sind unsichtbar, jedenfalls für die Höllenhündinnen an der Schranke, die sie sonst kategorisch abgewiesen hätten, und für die Benutzer, deren Gedanken die Engel - Bruno Ganz und Otto Sander - lesen können, oder vielmehr deren innere Stimmen, dieses unablässig arbeitende Mur meln, wir als einziges vernehmen. Henri Alekans Kamera, so wird Wenders Idee gewesen sein, könnte die Engel sichtbar machen, Handkes Sprache könnte das Murmeln festhalten. Steilere Perspektiven, denke ich anfangs, hätte Alekan in der Staatsbibliothek finden können, die schrägen Löcher und Durchblicke und Wendeltreppen in den 4. Stock und ich fürchte auch, daß der Text durch sein Gewicht die Bilder nach unten zieht. Aber Der Himmel über Berlin ist kein expressionistischer Film, eher ein impressionistischer, und die Worte halten doch in ihrer Schwere ganz oft das Murmeln fest, eben das Flüchtige, nicht immer allerdings, es wird auch philosophiert. Man soll dem Film nicht folgen wie einem Traktat oder einem Erzählfilm. Zuerst muß man Distanz gewinnen und ihn an sich vorüberziehen lassen. Er ist ein Schweifen, ein loser Haufen von Bildern, Episoden und Orten, ein Sightseeing durch ein bestimmtes Berlin: das in die südliche Friedrichstadt versetzte Tempodrom, hier Zirkus Alekan genannt, der Askanische Platz mit der Ruine des Anhalter Bahnhofs, SO 36, Möbel–Hübner, die Mauer, das Gleisdreieck, ganz kurz Ost–Berlin, auch der Wannsee, der Kudamm. Otto Sander sitzt auf der Siegessäule, auf den Schwingen der Goldelse, Curt Bois spielt Homer, geht unter der Magnetbahn durch und sagt, daß er nicht sterben wolle, bevor er nicht den Potsdamer Platz wiedergefunden hat, Peter Falk spielt Peter Falk, der in einem Film mitspielt, der am Bunker am Sozialpalast gedreht wird. Später stellt sich heraus, daß auch er einmal ein Engel war. Die Engel flanieren durch die Stadt. Sie sind diejenigen, die, wenn sie einem verzweifelt Grübelnden begegnen, unmerklich hinzutreten und leise die Hand auflegen, und tatsächlich, wir sehen es mit Staunen, der Verzweifelte faßt wieder Mut. Allmächtig sind sie jedoch nicht: Den Selbstmörder auf dem Europa–Center kann Otto Sander nicht retten, dafür aber sorgt er beim Unfall auf der Monumentenstraße für Erste Hilfe. Der Film ist so lange schwarz–weiß - besser: alle Nuancen des Grau umfassend, ohne je ganz schwarz oder weiß zu werden -, bis sich Bruno Ganz entschließt, sterblich zu werden. Er hat sich in die Trapezkünstlerin (Solvejg Dommartin)vom Zirkus Alekan verliebt und wird sich ihr nicht gut als körperloses Wesen präsentieren können. Von nun an ist der Film in Farbe und hat eine Geschichte: Wie sich die beiden, mit diskreter Unterstützung Peter Falks und Otto Sanders, suchen und schließlich in der Bar des Esplanade, bei einem Nick Cave– Konzert auch finden. Sie hält ihm eine lange Rede mit etwas von Entscheidung, und er sagt, was man als glücklich gefallener Engel eben sagt, daß es besser sei, etwas zu ahnen, als alles zu wissen, die Freuden des Irdischen etc. So rhythmischen und so lange anhaltenden Beifall habe ich in Cannes noch nicht erlebt. Ich glaube, ich bin einverstanden, Der Himmel über Berlin ist einer der besten Filme bisher. Thierry Chervel