: Die Mär vom Fischer und seiner Frau
■ In der evangelischen Akademie Loccum wurde über den Stellenwert der Vertrauensbildung für die internationale Sicherheit und über die Abrüstungsdiskussion der letzten Monate diskutiert
Von Jürgen Gottschlich
Loccum (taz) - „Herr Rühe, ich fürchte, meine Leute werden das nicht verstehen.“ Oleg Grinewski, Sonderbotschafter des Kreml in Sachen Abrüstung, schüttelte bekümmert den Kopf. Immer wieder, so erläutert er dem Auditorium, sei er bei Veranstaltungen in der Sowjetunion gefragt worden, warum denn die Bundesregierung dagegen sei, daß die UdSSR die Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite verschrotten wolle, wo doch die NATO kaum eine Gegenleistung dafür erbringen müßte. Er hätte das auch nicht beantworten können, die Frager aber damit getröstet, daß er bald in die Bundesrepublik fahre und Herr Rühe es ihm dann erklären würde. Doch die Erklärungen von Volker Rühe, stellvertretender Vorsitzender der CDU–Fraktion und zur Zeit ebenfalls quasi als Sonderbotschafter seines Kanzlers in Sachen Abrüstung unterwegs, hat nicht nur gegenüber dem eloquenten Russen Mühe, zu überzeugen. Auch das durchaus gemäßigte Publikum in der evangelischen Akademie Loccum reagierte überwiegend mit einem Aufstöhnen, als Rühe verkündete: „Es kann bestimmte Situationen geben, in denen es unmoralisch ist, sich eine Waffe nicht zuzulegen.“ Eigentlich sollte sich die seit langem geplante Tagung der Loccumer Akademie mit dem Stellenwert der Vertrauensbildung für die internationale Sicherheit beschäftigen. Doch die Raketendebatte der letzten Woche zog sich wie ein roter Faden durch das Wochenende und so wurde der Schlagabtausch zwischen Grinewski und Rühe zum eigentlichen Höhepunkt der dreitägigen Veranstaltung. Bemerkenswert vor allem die Umkehrung der Verhältnisse im Auftritt beider Seiten. Statt der mit steinernem Gesicht kommuniquehafte Statements verlesenden Sowjets ein jovialer Sonderbotschafter, der geschickt ans Publikum appelliert. Demgegenüber ein verkrampfter CDU–Mann, der die Sowjets verbissen des vermeintlich schändlichen Versuchs anklagt, Europa von Atomwaffen freizumachen. „Erst bieten sie den Abzug der SS 20 an, da müssen wir „Ja“ sagen, weil wir es selbst gefordert haben. Dann kommen sie mit dem Verschrotten zwischen 500 und 1.000 Kilometer, da müßte man ja eigentlich auch „Ja“ sagen. Als nächstes werden sie wahrscheinlich die Beseitigung der taktischen Raketen zwischen 150 und 500 Kilometer vorschlagen, da sollten wir dann auch „Ja“ sagen. Und plötzlich stehen wir vor einem denuklearisierten Europa.“ Rühe kann sich über diese sowjetische Eskalationsstrategie sichtlich ereifern, denn „wir wollen das nicht“. Statt dessen, so umreißt der Mann des Kanzlers das Abrüstungskonzept seiner Regierung, sollen erst einmal die Raketen über 1.000 Kilometer abgebaut werden. Dann sollen die Supermächte ihre strategischen Waffenarsenale wie versprochen halbieren und ein weltweites Verbot chemischer Waffen unterzeichnet werden. Erst dann - und auch nur im Zusammenhang mit der konventionellen Abrüstung - könne man die Atomwaffen unter 1.000 Kilometer Reichweite verhandeln. „Die Nagelprobe für Gorbatschows Glaubwürdigkeit“, darauf insistiert Volker Rühe nachhaltig, „liegt im konventionellen Bereich.“ Falls die Supermächte aber entgegen den bundesdeutschen Interessen schon jetzt ein Abkommen über Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite unterzeichnen wollten, bestehe die Bundesregierung auf dem Verbleib der 72 Pershing Ia, die zum Bestand der Bundeswehr gehörten. Oleg Grinewski ließ diese Ausführungen ohne sichtliche Erregung über sich ergehen. Statt mit Militärstatistiken konterte er mit einem Märchen. Er erinnerte Rühe an die Fabel vom Fischer und seiner Frau, die auf jeden erfüllten Wunsch noch einen drauf sattelte, bis sie zuletzt wieder mit leeren Händen dastand. „Ich hoffe, der Bundesregierung wird es nicht ähnlich ergehen. Wenn man alle Probleme auf einen Haufen wirft, werden Teillösungen, die sich jetzt abzeichnen, wieder sterben.“
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