Chiracs Eiertanz um Präsidentschaft und Le Pen

■ Außenhandelsminister Michel Noir rückte Le Pen in die Ecke des Faschismus und traf damit ins Schwarze des Regierungsdilemmas / Jeder vierte Franzose steht hinter Le Pens Ideen / Chirac rechnet mit den rechten Stimmen für seine Präsidentschaft

Aus Paris Georg Blume

In der Not entschied Jacques Chirac, zumindest die Form zu wahren. Am Montag lud der französische Regierungschef seinen ins Gerede gekommenen Außenhandelsminister Michael Noir zu einem persönlichen Gespräch ins Pariser Rathaus, gab dem Minister die Gelegenheit, Regierungsgehorsam zu bekunden, und erklärte damit den „Zwischenfall Noir“ für erledigt. Erledigt ist freilich gar nichts. „Wenn die Regierungsparteien so weitermachen, ist mein Präsidentschaftswahlkampf schon gelaufen“, kann der Chef der französischen Rechtsradikalen, Jean–Marie Le Pen, derzeit höhnen. Zuvor war es kein anderer als Jean–Marie Le Pen gewesen, der den „Zwischenfall Noir“ auslöste und Frankreichs bürgerliche Rechte unversehens in die seit ihrer Europadebatte heftigste interne ideologische Kontroverse trieb. Die Auseinandersetzungen um Michel Noir begannen mit einem Artikel des Außenhandelsministers, der am 15. Mai von der Tageszeitung Le Monde veröffentlicht wurde, und direkt auf Le Pen Bezug nimmt. „Viele Symptome erinnern uns heute an das Frank reich von 1930“, schreibt Noir, dessen Vater die Nazis nach Mauthausen deportierten. „Alles ist da: mit rasiertem Schädel demonstrierende Jugendliche in Paris, die Flugblätter verteilen, in denen die Existenz der Gaskammern geleugnet wird; das gleiche am 8. Mai in Lyon mit antisemitischen, rassistischen und faschistischen Parolen; Kollektivangst vor AIDS, die mit Schande von einem Präsidentschaftsanwärter ausgebeutet wird; Razzien von Tausenden von Rechtsradikalen in Lyon und Marseille.“ Noirs Bestandsaufnahme folgte die politische Konsequenz, jeder Form der Allianz mit der „Front National“ Le Pens kategorisch abzuschwören. „Werden wir bereit sein, unsere Seele zu opfern, um Wahlen nicht zu verlieren?“ fragte Noir die eigene Partei, die RPR. Mit seinen wenigen Zeilen, denen im Zusammenhang mit dem laufenden Barbie–Prozeß noch zusätzliche Bedeutung zukam, traf der in der Chirac–Mannschaft bisher kaum in Erscheinung getretene Außenhandelsminister ins Schwarze. Er traf so tief, daß der Zusammenhalt der Regierung und die Autorität Chiracs ins Wanken gerieten. Die oppositionellen Sozialisten umjubelten Noir, sprachen von ei ner „mutigen Tat“ des Außenhandelsministers, bezeugten, daß seine „Botschaft Kraft enthielte“. Die Antwort aus dem Regierungslager ließ nicht lange auf sich warten: „Die Anhängerschaft der Front National bleibt stabil. Dem müssen wir Rechnung tragen“, konterte Regierungssprecher Baudouin und Entwicklungshilfeminister Aurillac befand: „Wir dürfen Le Pen nicht in ein Ghetto stellen und ihm die Palme des Märtyrers lassen.“ Andere Minister aber solidarisierten sich mit Noir. Die Kontroverse in der Regierung lag offen, man wartete auf das Machtwort des Premierministers. Doch für Chirac stand plötzlich und unvorhergesehen die Strategie seines Präsidentschaftswahlkampfes auf dem Spiel. Chiracs öffentliche Antwort auf Michel Noir konnten 30.000 Parteifreunde der Gaullisten an diesem Sonntag auf dem Parteitag der RPR vernehmen. Sie blieb zweideutig. Chirac sprach bezüglich der Rechtsradikalen von der „Gewalt der Intoleranz, des Sektarismus und des Hasses, die die schlimmsten Folgen hat,“ und beließ es dabei. Die Zweideutigkeit ist Chiracsche Strategie. Die Angst auf der bürgerlichen Rechten, durch Le Pen im näch sten Jahr die Präsidentschaftswahl an die Sozialisten zu verlieren, ist nicht neu. Mit den erwarteten zehn Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang wird das Maß der rechtsradikalen Stimmübertragung auf den Kandidaten der Rechten im zweiten Wahlgang sehr wahrscheinlich die Wahl entscheiden: Le Pen als Schiedsrichter. Langfristig droht der Rechten das jahrzehntelange Schicksal der Sozialisten: die Bindung an eine radikale Partei auf der eigenen Seite, die den Zugang der Macht erschwert. Mitterand mußte die KPF erst abschütteln, bevor er die Wahl gewann. Doch Chriac hat kurzfristig noch andere Sorgen. Für ihn kann mit einem starken Le Pen bereits das Aus im ersten Wahlgang 1988 kommen, wenn er dann dem gemäßigteren Kandidaten der Rechten, Raymond Barre, unterliegt, dessen Wähler der Versuchung Le Pen nicht im gleichen Maße ausgesetzt sind wie die seinen. Was also anderes bleibt dem Premierminister, als den Versuch zu unternehmen, mit einer Le Pen–nahen Politik bereits verlorene Stimmen zurückzugewinnen bzw. nicht noch mehr abzugeben? Zumal jeder vierte Franzose behauptet, „die Ideen Le Pens zu teilen“, wie es die Umfrageergebnisse seit zwei Jahren dokumentieren. Jaques Chirac kennt für seine politische Tat nur ein Kriterium: die Effizienz. Er stellte dies hinreichend unter Beweis, als er 1981 dem Kandidaten Mitterand seinen Vorzug gab. Kompliziert wird es für ihn heute, wenn die eigenen Minister nicht mehr mitspielen. „Entweder du schweigst, oder du trittst zurück“, scholt Chirac vergangene Woche Michel Noir. Seither war von Michel Noir nichts mehr zu vernehmen. Doch die Diskussion wird weitergehen. Bereits 1983, als ein Gaullist in der Kleinstadt Dreux das erste Mal eine Koalition mit den Rechtsradikalen einging, warnte die ehemalige Ministerin Giscards, Simone Veil: „Dreux hätte besser verloren gehen sollen.“ Kaum ein rechter Bürgermeister hat sich bis heute an diesen Rat gehalten, aber dies wird in Zukunft schwerer werden. Mit dem Vergleich mit 1930, mit seiner impliziten Bezugnahme auf den Barbie–Prozeß hat Michel Noir die Begriffe Le Pen und Faschismus zusammengerückt. Das hatten bisher nicht einmal die Sozialisten gewagt. Diesem neuen Stand werden die Wahlkampfdiskussionen Rechnung tragen müssen.