Eine Narrenkappe für Ernst Albrecht

■ 40.000 Studenten kamen gestern zur Demo aus allen Teilen Niedersachsens in Göttingen zusammen / Stimmung auf dem Campus von Spontaneität und Hektik bestimmt / Kampf gegen „Auslese zugunsten eines angepaßten Leistungstyps“

Aus Göttingen Jürgen Voges

Auf dem Hauptbahnhof von Hannover wimmelt es zu früher Morgenstunde von Studenten. Auch ein riesiger roter Sarg und ein ebenso großer Rotstift ist auf dem Bahnsteig zu sehen. Aber Rotstift und Sarg passen weder durch eine Tür noch durch ein Fenster des zweiten Sonderzuges aus Hannover, der 1.500 Studenten zur Zentralen Demo nach Göttingen transportiert. Bei der Abfahrt bleiben die beiden knallroten Protestobjekte auf dem Bahnsteig zurück. In hinteren Teil des Sonderzuges sitzen die Elektrotechniker und Maschinenbauer von den Hannoverschen Fachhochschulen - auch einige von der Uni sind darunter. „E–Techniker sucht Sponsor“, „Ich studiere in Niedersachsen und mein Papi hat nur 2000 DM dazubezahlt“ oder einfach „Kampf den Sparschweinen“ kann man auf den Zetteln in knalligen Farben lesen, die sie auf ihre Hemden geklebt haben. Carsten und Stephan, zwei E–Technik– Studenten im zweiten Semester, haben vor den Aktionen gegen die Sparbeschlüsse noch nie demonstriert. „Weder gegen Atomkraft noch für den Frieden, höchstens mal bei den Eltern für mehr Taschengeld“, sagen sie. Dafür sind sie in den letzten 14 Tagen gleich fünfmal in die Hannoversche Innenstadt gezogen. „Durch die Kürzungen bekommst du bei uns kaum noch einen Laborplatz“, sagt Stefan. „Es können bei uns einfach nicht mehr genug HiWis bezahlt werden, die uns bei unseren Versuchen betreuen. Anstatt die Laborplätze an die Studentenzahlen anzupassen, macht man es umgekehrt“. Sich nur für die eigenen Studienbedingungen einzusetzen, das ist Hedda und Thomas, zwei angehenden Tiermedizinern, die einige Wagen weiter sitzen, zuwenig. „Wir sollen zwar jetzt auch die Einmalhandschuhe, die wir beim Rektalisieren benutzen, wegen der Sparmaßnahmen wieder auswaschen“, sagt Hedda, „aber man muß das ganze doch im politischen Zusammenhang sehen“. Der Rationalisierung der Produktion würde jetzt die Rationalisierung der Wissenschaft folgen, meint Thomas. Wenn es um den Ausbau des Fraunhoffer Institut in Hannover oder um gemeinsame Institute mit dem Volkswagenwerk in Braunschweig ginge, dann habe die Landesregierung Geld genug. „Ziel der Hochschulpolitik, für die Einsparungen nur ein Hebel sind“, ist für Thomas, „die Forschung aus der Uni herauszuverlagern, und bei den Studenten eine hochqualifizierte, angepaßte Elite heranzuzüchten, wobei dann der Rest einfach abgeschoben wird“. Jetzt müsse man mehr politisches Niveau reinbringen und nicht bei dem Protest gegen Albrechts Griff in die Taschen stehenbleiben, meint er. „Aber sicher hat die Breite der Bewegung von den Burschenschaften bis zu den Linken erst einmal dazu geführt, daß das Gefühl der Resignation überhaupt aufgeknackt wurde“. „Insgesamt sechs Sonderzüge mit 10.000 Studenten kommen heute hier an“, erklärt in Göttingen auf dem Bahnsteig der Bundesbahner mit der roten Mütze. Das Transparent „Ihr Schweine könnt euch ruhig verstecken - wir finden euch doch“ voran, begleitet von Hupen und dem Rhythmus von allen möglichen selbstgebastelten Schlag– und Rasselinstrumenten, ziehen die Hannoverschen Studenten dann vom Hauptbahnhof erstmal in Richtung Campus. Am alten Audimax werden sie johlend von dem zweiten 1500–köpfigen Block aus Hannover begrüßt, der einen Sonderzug früher gefahren ist und sich jetzt um eine mehrere Meter große für Ernst Albrecht bestimmte Narrenkappe gruppiert. Beide Blöcke ziehen gemeinsam erstmal in Richtung Innenstadt. Bei den Demo–Organisatoren vom Göttinger Streikrat, der sein Domizil in der zweiten Etage des roten Backsteinhauses des AStA hat, löst diese Spontaneität der Hannoverschen Kommilitonen erstmal Hektik aus. Als dann auch noch das Ordnungsamt der Stadt Göttingen für die Abschlußkundgebung keinen Strom liefern und die Getränkestände dort nicht zulassen will, bewegen sich immer mehr Studenten vom Campus in Richtung Innenstadt. Der Streikrat sieht schon „unsere ganze Organisation im Eimer“, und man telefoniert ununterbrochen mit dem Ordnungsamt. Die städtischen Beamten sehen jedoch in den Flaschen, die an den Bierständen verkauft werden sollen „potentielle Wurfgeschosse“. Beim Streikrat laufen immer bedrohlichere Nachrichten ein: 500 Polizisten mit Wasserwerfern stünden am 82er Platz den Studenten gegenüber. Erst als der Streikrat endlich den Leiter der Göttinger Schutzpolizei, Lothar Will, ans Telfon bekommt, sieht der endlich ein, daß „eine Außereinadersetzung zwischen der Polizei und den vierzigtausend Studenten gerade um einen Bierstand überflüssig ist“, und erteilt für den Getränkestand die Genehmigung. Jetzt gerade, „um zwölf Uhr“, so erläutert eine junge Studentin vom Streikrat dann wieder beruhigt den Organisationsplan, „ist am Uni–Nordbereich der Block der Studenten von außerhalb losmarschiert, die mit Bussen und mit PKWs nach Göttingen gekommen sind. Die treffen sich dann hier am Campus mit den Göttingern und den Leuten aus den sechs Sonderzügen und gehen dann durch die City zum anderen Ende der Stadt“. „Bei den Göttingern“, so sagt ein anderes Streikratmitglied, „war von Anfang an die Orientierung drin, daß es nicht nur um die Universität geht“. Im Göttinger Aufruf zu der Demonstration werden „StudentInnen, SchülerInnen, Hiwis, Ausländerinnen, Arbeitslose, Nichtseßhafte, Forschung und Lehre“ als Opfer der Sparmaßnahmen in einem Satz genannt. Sie kämpfen gegen „eine Auslese zugunsten eines angepaßten Leistungstyps und Einzelkämpfers“, gegen „die Spaltung der Studenten in eine angepaßte funktionale Elite und einen großen Rest, der sehen kann, wo er bleibt“.