DGB: Kein Boykott der Volkszählung

■ Die Gewerkschaften verhalten sich staatsloyal / Eiertanz der volkszählungskritischen Gewerkschafter / Die Flucht in den innergewerkschaftlichen Pluralismus / Presseerklärung als politisches Druckmittel

Von Martin Kempe

Berlin (taz) - Die Delegiertenversammlung der Industriegewerkschaft Papier, Ortsverein Hamburg, lehnt die Volkszählung ab und fordert die IG–Druck–Mitglieder auf, „sich an den verschiedenen Formen des Protests und des Widerstandes gegen die Volkszählung zu beteiligen“. Die Rundfunk–, Fernseh– und Film– Union in der Gewerkschaft Kunst (RFFU) füllt im Mai 15 Seiten ihres Mitgliedermagazins mit Kritischem zur Volkszählung - kaum ein Argument dagegen bleibt unerwähnt. Detlef Hensche, stellvertretender Vorsitzender der IG– Druck und Papier, erinnert in der Mitgliederzeitung druck und papier Nr. 9 an die Verwendung von Daten durch die Faschisten und konstatiert: „Auch wenn heute Behördenchefs heilige Eide schwören, nie gegen Gesetz und Verfassung zu verstoßen - was bewahrt uns vor dem Rechtsbruch künftiger Amtsinhaber?“ All diese Stellungnahmen befinden sich im Widerspruch zur offiziellen Haltung des DGB. Schon am 10. März hatte der DGB– Bundesvorstand beschlossen: „An der Notwendigkeit der Durchführung von Volkszählungen zur Ermittlung statistischer Daten kann ... nicht gezweifelt werden.“ Das Volkszählungsgesetz von 1987 entspreche den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts. „Der DGB“, heißt es im Beschluß des Bundesvorstandes, „hält daher den Boykott der Volkszählung nicht für vertretbar.“ Nach dieser grundsätzlichen Festlegung für den staatlichen Datenhunger führt er allerhand Bedenken gegen „zweckwidrige Verwendung“ der erhobenen Daten an und äußert Verständnis für die „teilweise vorhandene Ablehnung der Volkszählung durch eine große Zahl von Bürgern“. Die Bundesregierung fordert der DGB auf, „den Belangen des Datenschutzes Rechnung zu tragen und so ihren Beitrag zum Gelingen der Volkszählung zu leisten“. Angesichts dieser Festlegung durch die obersten Gewerkschaftsführer tun sich die gemeinen Mitglieder und die Funktionäre der niederen Ebenen schwer, ihre abweichende Meinung nicht nur privat, sondern auch in den Gremien und Publikationsorganen der Gewerkschaften zu äußern. Denn noch immer kann man durch derlei Abweichungen in den Geruch der Staatsfeindlichkeit geraten - angesichts der prinzipiellen Staatstreue der deutschen Gewerkschaften durchaus ein politisches Risiko. Die Mitgliederzeitung der Industriegewerkschaft Metall, die in zwei Millionen Auflage vertriebene metall, leitete in ihrer Ausgabe vom 14. April ihre eindeutig volkszählungskriti sche Titelstory mit einem gewundenen Vorspann ein: „die neue Volkszählung sei auf ein „juristisch einwandfreies“ Gesetz gestützt, dem „auch der DGB seine Zustimmung nicht versagte“. Aber was die Zeitung eigentlich sagen wollte, kommt dann: „Warum aber auch diese Volkszählung in ihrer Langzeitwirkung ein großes Restrisiko für die Demokratie bergen kann, zeigt metall hier auf“ - es folgt eine Zusammenstellung all der Gründe, die dafür sprechen, sich der Volkszählung zu verweigern. Andere Gewerkschaftszeitungen flüchten sich in die reine Wiedergabe unterschiedlicher Positionen, so die IG–Metall–Funktionärszeitschrift Der Gewerkschafter (2/87), die die volkszählungskritische Rechtsanwältin Verena Rottmann aus Hamburg mit dem Präsidenten des Statistischen Landesamtes, Egon Hölder, streiten ließ. Die DGB–Jugendzeitschrift solidarität, die sich an die Jungfunktionäre der Gewerkschaften wendet, ließ den Innenminister von Nordrhein– Westfalen, Herbert Schnoor, und den Sekretär des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Klaus Vack, gegeneinander antreten. Die Jungfunktionäre des DGB befanden sich wieder einmal in ihrer Dauerklemme zwischen „Bewegung“ und Apparat, in diesem Fall zwischen der Boykott–Bewegung und der staatsloyalen Beschlußlage ihrer Oberfunktionäre. Entsprechend gewunden liest sich ein Beschluß des DGB– Bundesjugendausschusses vom 26. März dieses Jahres. Zwar finde er „einen großen Teil der geäußerten kritischen Einschätzungen ... in der Stellungnahme des DGB–Bundesvorstands wieder“. Aber angesichts der Vielzahl noch weiter reichender Bedenken gegen die Volkszählung vertreten die Jungfunktionäre die Auffassung, „daß sich der DGB–Bundesvorstand aufgrund der in seiner eigenen Stellungnahme formulierten Kritik von der geplanten Form und den Durchführungsmodalitäten der Volkszählung hätte distanzieren müssen“. Zwar sei es ihnen klar, daß der DGB nicht zum Boykott aufrufen könne. Das aber dürfe die DGB–Jugend nicht daran hindern, „mit allem politischen Druck“ gegen die „obrigkeitsstaatlichen Aspekte“ zu mobilisieren und auf eine Durchführung der Volkszählung ohne Zwangscharakter zu drängen. Die DGB– Jugendfunktionäre formulieren zum Schluß eine Bitte an den DGB– Bundesvorstand: Er möge doch „im Sinne seiner eigenen Kritik“ gegenüber der Konferenz der Innenminister „nachdrücklich tätig“ werden. Übersehen hatten sie dabei, daß dies doch schon längst geschehen war: in Form einer Presseerklärung vom 10. März, die, wenn überhaupt, in den Medien als Kurzmeldung veröffentlicht worden war.