Rechtsfortschritt

■ Zum Urteil des Bundessozialgerichts

Warum eigentlich mußte der junge Werftarbeiter, nur weil er sich als Pazifist nicht an Kriegsproduktion beteiligen wollte, seinen Arbeitsplatz aufgeben? Warum eigentlich ist es nicht legitim zu fordern, Unternehmer sollen gefälligst solche Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, die mit dem Gewissen auch vereinbar sind? Oder, wenn sie dazu nicht in der Lage sind, dann eben zu unbegrenzter Lohnfortzahlung verdonnert werden? Naive Fragen, denn wie jeder weiß, sind das Gewissen und die Meinung der Arbeitenden im Arbeitsleben weder gefragt noch irgendwie vorgesehen. Dies hat sich mit dem Urteil des Bundessozialgerichts nun ein ganz klein bißchen verändert. Denn diese Entscheidung ist nur dann begründbar, wenn den Arbeitenden eine eigene Verhaltensfreiheit gegenüber dem Inhalt ihrer Tätigkeit, gegenüber dem bisher unanfechtbaren Weisungsrecht des Unternehmers im Ansatz zugebilligt wird. Das im Mai ergangene letztinstanzliche Urteil des Bundesarbeitsgerichts im Fall Schlichting weist in dieselbe Richtung: Die fristlose Kündigung eines Druckers, der sich geweigert hatte, Nazi–Literatur zu drucken, war endgültig für rechtsunwirksam erklärt worden. Rechtsfortschritt wird immer nur in kleinen Schritten erzielt. Das Urteil des BSG ist ein solcher Schritt, auch wenn es den Betroffenen nicht vor Arbeitslosigkeit bewahrt. Aber jeder noch so kleine Schritt ist nicht möglich ohne den Mut einzelner, ihr Gewissen, ihre politische Meinung nicht vor der Arbeit in den Spind zu hängen und nachher wieder rauszuholen. Die Demokratie hört nur dort vor dem Werkstor auf, wo sie kampflos preisgegeben wird. Martin Kempe