Viedma, zukünftige Hauptstadt Argentiniens

■ Ende Mai beschloß das argentinische Abgeordnetenhaus das Regierungszentrum von Buenos Aires nach Viedma, in der Provinz Patagonien, zu verlagern 1989 soll der Umzug in die 950 km entfernte Stadt erfolgen / Ziel ist das „Hinterland“ Patagonien attraktiver zu machen und es wirtschaftlich besser zu nutzen

Aus Viedma Gaby Weber

Als Taxifahrer kennt er seine Fahrgäste genau; da gibt es die Alteingesessenen, die Zugereisten und die Fremden. Wer das erste Mal in seinen Ford Falcon einsteigt, den weiß er sofort einzuschätzen: „Journalistin?“. Jaja, und was die hergeführt hat, braucht ihm keiner zu erzählen, denn alle wollen sowieso nur das eine: die zukünftige Hauptstadt inspizieren. Seit Monaten ist die 35.000–Seelen–Gemeinde in der Weltpresse und die Weltpresse in Viedma. Diplomaten haben bereits ihren zukünftigen Wohnort besichtigt, und sogar der Papst hat hier im April für den Frieden gebetet. Bereits im April des vergangenen Jahres hatte Präsident Raul Alfonsin den Plan der Verlegung der Hauptstadt bekanntgegeben: „Marschrichtung Süden, in die Kälte, zum Meer“. Nur so sei das bisher ungenutzte riesige Patagonien, „El Hinterland“, wirtschaftlich auszubeuten. Neuer Standort soll die Doppelstadt werden, die 25 Kilometer von der Mündung des Rio Negro entfernt ist: auf dem linken Flußufer das noch in der Provinz Buenos Aires gelegene malerische Carmen de Patagones und auf der rechten Seite Viedma, von wo aus die Provinz Rio Negro regiert wird. Viedma ist eine typische Provinzstadt: sie ist sauber, Industrie gibt es bis auf eine kleine Textilfabrik nicht. Man lebt vom öffentlichen Dienst, der in den letzten 20 Jahren die Einwohnerzahl verzehnfacht hat. Im Gegensatz zu Carmen de Patagones, das den pittoresken Stil der spanischen Gründer beibehalten hat, ist Viedma eine Stadt der modernen niedrigen Reihenhäuser. Man kauft im Supermarkt oder in der winzigen Einkaufstraße ein. Das Zentrum ist die Plaza samt Kirche, die „Kathedrale“ genannt wird. Am Stadtrand stehen ein paar ärmliche Häuser, aber sie sind aus festem Material und haben Strom. Slums gibt es ebensowenig wie Bettler, Schuhputzer oder ambulante Verkäufer, die in allen südamerikanischen Metropolen zu finden sind. Das gepflegteste Restaurant am Ort heißt „La Cantina“. Ab 22 Uhr füllt es sich mit Männern in den besten Jahren, mit Ingenieuren, Architekten oder Geschäftsleuten, die ihre Familien in Buenos Aires gelassen haben, um vor Ort die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der geplanten Verlegung auszuloten. In Patagonien ist die Welt noch in Ordnung „La Cantina“ leistet nicht nur kulinarische Dienste, sondern auch soziale. Hier trifft man sich, tauscht Erfahrungen aus und vergnügt sich beim Rotwein. Die üblichen Großstadtsünden gibt es in Viedma nicht: weder die traditionelle Wechselstube mit Schwarzmarktkurs noch irgendeine Form des Nachtlebens haben hier ihren Platz. Die Eröffnung eines bereits fertiggebauten Tanzlokals mit Schlafzimmern im ersten Stock konnte der Bischof rechtzeitig verhindern, für Nachtclubs oder Striptease fehlt bisher der Markt, und noch nicht einmal eine Tango– oder Folklore–Kneipe sorgen für Unterhaltung. Hier ist die Welt also noch in Ordnung, knapp 1.000 Kilometer südlich der argentinischen Metropole. Doch schon hat eine kleine Völkerwanderung in die „Stadt der Zukunft“ begonnen. Auf der Suche nach dem großen Glück machen sich aus allen Landesteilen junge Männer nach Viedma auf. Goldrush in Patagonien. Mario zum Beispiel ist erst vor acht Wochen aus Salta gekommen und jobbt jetzt als Kellner: „Hier habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Arbeit gefunden. Für mich ist alles wunderbar. Hier ist die Zukunft“. Seit Monaten ist in der Kleinstadt eine nie dagewesene Geschäftigkeit ausgebrochen. Die Zeit der Siesta gehört der Vergangenheit an. Die Stadt scheint aus allen Nähten zu platzen. Ein Hotelzimmer zu bekommen, ist oft nur mit persönlicher Empfehlung der Provinzregierung möglich. Im vornehmen „Austral“ logieren die Geschäftsleute aus aller Welt, die sich auf die Pirsch nach zukunftsträchtigen Investitionen gelegt haben. Und in den Billigpensionen haben sich die Bauarbeiter und Jobsucher einquartiert. Die Preise steigen jetzt schon Die Mieten sind seit der Bekanntgabe des Vorhabens in astronomische Höhen geschnellt. „Die Provinz– und die Bundesregierung mieten, ohne Bedingungen zu stellen, zu horrenden Preisen alle verfügbaren Wohnungen, und das führt zu einer Marktverzerrung, die wir ausbaden müssen“, so Carlos Espinosa. Der Korrespondent der amtlichen Nachrichtenagentur TELAM begleitete wochenlang eine Kollegin auf Wohnungssuche. Inzwischen kostet ein bescheidenes Haus mit zwei Schlafzimmern 1.000 Australes Miete, während ein Journalist durchschnittlich 300 Australes verdient. Grund und Boden zu kaufen, ist noch schwieriger geworden. Um 500 Monaten die Preise gestiegen. Jedenfalls auf dem Papier, denn zum Verkauf eines Grundstücks ist im Moment niemand wirklich bereit. „Die Spekulation liegt in der Luft“ - so der Journalist Espinosa. Vor einigen Monaten verschreckten Zeitungsartikel mit dem Titel „Die Verlegung der Hauptstadt verursacht dem Staat keine Ausgaben“ potentielle Spekulanten. Darin erklärten Abgeordnete der Regierungspartei, daß der Staat Boden zu dem Preis enteignen könnte, der vor der Bekanntgabe der Verlegung gültig war; dieses Land würde danach an private Geschäftsleute weiterverkauft werden - mit einer möglichst hohen Gewinnspanne, versteht sich. Während Politiker und Geschäftstreibende von der Idee der neuen Hauptstadt begeistert sind, wartet der Durchschnittsbürger erst einmal ab. Da ist einerseits die naive Hoffnung auf eine märchenhafte Lösung aller Probleme, andererseits aber das alte Mißtrauen gegen alles, was von oben kommt. „Ich liebe den sauberen Fluß und die reine Luft“ - so der Geschichtsprofessor Hector Rey - „bislang gibt es hier keine Drogen und Verbrechen. In Zukunft müssen wir wohl die Autos und die Häuser abschließen.“ Rey bezeichnet sich selbst als Gegner des Projekts, das das harmonische Zusammenleben zerstören wird. „Wir sind mit dem Projekt einverstanden“, so Carlos Espinosa, „wir begreifen es als Herausforderung an unsere Phantasie. Aber wir fordern ein Mitspracherecht.“ An einer praktischen Beteiligung der Bürger fehlt es bisher. In Viedma fühlen sich viele von den Behörden in Buenos Aires überrollt. Erbittert reagierte man, als im April auf Druck von Buenos Aires das Parlament der Provinz Rio Negro ein Gesetz verabschiedete, nach dem die Behörden auf die Ausschreibung für die Errichtung von 2.000 neuen Wohnungen verzichten dürfen. Sie können damit die Aufträge direkt an die Baufirmen richten. Für den Architektenverband der Region bedeutet das neue Gesetz eine „Einfalltür für Korruption ungeahnten Ausmaßes“. Wie üblich seien auch in diesem Fall die Ortsansässigen nicht um ihre Meinung gefragt worden. Das Argument der Dezentralisierung, das Alfonsin zur Rechtfertigung seiner ehrgeizigen Pläne stets im Munde führe, sei längst widerlegt worden - so die Sprecherin der Architekten. Angst vor Entlassungen Besorgt ist die Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten. Denn wenn Viedma zur Bundeshauptstadt wird, muß die Provinzregierung Patagoniens umziehen, vermutlich 300 Kilometer flußaufwärts. „Wir verbinden mit dem Umzug eine Reform der Verwaltung und eine immense Rationalisierung“ - so kündigt Lilian Agri aus der Abteilung Planung der Provinzregierung vornehm an. Man werde davon profitieren, daß die meisten Angestellten in Viedma bleiben wollten, die man dann nicht mehr weiterbeschäfti gen bräuchte. Lediglich die Älteren werden notgedrungen mit ihren Familien der Provinzregierung folgen, um ihre Rentenansprüche zu sichern. Bonn als Vorbild „Wir wollen uns mehr am Beispiel Bonn als an Brasilia orientieren“ - so fabuliert Jorge Riopedre von der zuständigen technischen Kommission des Ministeriums für öffentliche Bauten - „wir wollen eine Stadt mit vielen Grünflächen und wenigen Hochhäusern.“ Sieben Kilometer von Viedma entfernt in Richtung Atlantik, dort wo heute nur Gras und Gestrüpp wächst, soll auf beiden Seiten des Rio Negro die neue Metropole errichtet werden. Man sei sich auch über die Lage der Ministerien, des Diplomatenviertels und der Wohngebiete schon im Klaren. Das 20 Kilometer entfernte verträumte Dorf namens Condor soll der exklusive Badeort der Ministerialbürokratie werden. Wasser und Energieversorgung stelle der Fluß sicher, und auch die Versorgung der künftigen 400.000 Personen–Stadt mit Lebensmitteln sei kein Problem. Man arbeite bereits an der Planung einer neuen leistungsfähigen Infrastruktur der Landwirtschaft, wie etwa der Bewässerung der Felder, um genügend Rindfleisch produzieren zu können. Der 170 km entfernte Tiefseehafen San Antonio Oeste, der erst vor vier Jahren eingeweiht wurde, macht nicht nur den Zugang in die neue Hauptstadt auf dem Seeweg möglich, sondern - so Riopedres Zukunftsmusik - diene langfristig auch der regionalen Integration mit Chile. Durch eine Verbindung von San Antonio mit einem chilenischen Pazifikhafen könne Argentinien seinen Außenhandel mit China und der Sowjetunion über den Pazifik abwickeln und Chile habe dann Zugang zu einem Atlantikhafen. Es geht auch um den Aufbruch zu den neuen Ufern des Computer– Zeitalters. „Alle Institutionen des Staates werden modernisiert“ - so Riopedre - „durch den Einsatz von Computertechnik, Informatik und moderner Kommunikationstechnologie wird die Verwaltung entlastet.“ Im aufgeblähten öffentlichen Dienst sollen so Arbeitsplätze massiv abgebaut werden. Siemens - so heißt es - wird den großen Happen beim Verkauf von High–Tech–Produkten erzielen. Die offizielle Schätzung veranschlagt für den Umzug nach Viedma 4,6 Milliarden Dollar, Wissenschaftler und Oppositionspolitiker halten ein Vielfaches dieser Summe für realistisch. Um das Projekt zu finanzieren, soll auch Argentiniens staatliches Erdöl– Monopol eingeschränkt werden - so jedenfalls die Gerüchte - um durch die Vergabe von privaten Genehmigungen zur Ausbeutung der nationalen Erdölvorkommen das nötige Geld reinzubekommen. Die Behörden verbreiten Zweckoptimismus: Der Unterhalt der aufgeblähten Bürokratie in Buenos Aires koste weitaus mehr als die Verlegung eines deutlich reduzierten Staatsapparates, argumentiert Lilian Agri von der Provinzregierung. Und in Buenos Aires wird die internationale Mithilfe gepriesen: da sei nicht nur die italienische Regierung, die bereits verbindliche Zusagen abgegeben habe. Vor allem die USA und der Präsident der Gläubigerbanken, William R. Rhodes, hätten jetzt der argentinischen Regierung ihre massive Unterstützung bei den sozialen Programmen versprochen. Zufällig genau an dem Tag, an dem Alfonsin das Amnestie–Gesetz für die Militärs dem Kongreß übermittelt hatte.