Visionäre Zweideutigkeit

■ Zum Besuch des Bundespräsidenten in der Sowjetunion

Wenn man sich die Politik vorstellt, die zu der Moskauer Rede des Bundespräsidenten paßt, könnte man hierzulande freier durchatmen. Ein deutscher und zumal konservativer Bundespräsident, der es unternimmt, die zukünftigen politischen Gemeinsamkeiten aus der wunderbaren Schrift „Zum ewigen Frieden“ von Kant und aus einer Sentenz des jungen Marx abzuleiten, verwandelt das Volk der Richter und Henker sicher nicht abrupt in ein Volk der Dichter und Denker. Allein, er gewinnt ein Stück normalen Austausches zwischen den Nationen zurück. Jedoch sind Rede und Besuch zweideutig, weil sie Bedeutung innerhalb eines politischen Vakuums erhält. Der Präsident formuliert ostpolitische Visionen für eine Regierung, die erwiesenermaßen nicht dazu fähig war. So oszilliert von Weizsäckers Rede, gleich ob es sich nun um Abrüstung oder um die eoropäische Kultureinheit handelt, zwischen der Sprache des Menschheitsfortschritt und Formulierungen, in denen auch die Stahlhelmfraktion unterkriechen kann. Daß durch die innenpolitischen Verhältnisse der Bundespräsident zu einer politischen Kraft in der Innenpolitik geworden ist, macht seine Rede für die Sowjetunion nicht klarer, problematisiert aber gleichzeitig die moralische Rolle seines Amtes. Wie Weizsäcker an die „unsäglichen Verluste“ der Sowjetunion erinnerte, ohne allerdings die Zahlen zu nennen, mag für den Gastgeber akzeptabel sein, so akzeptabel wie es die Kranznierderlegung am Ehrenmal des unbekannten Soldaten ist. Aber der Präsident hat auch einen innenpolitischen moralischen Auftrag. Wenn von Weizsäcker sich zu der deutsch–sowjetischen Vergangenheit äußert, ohne daß es einen gehässigen Aufschrei in diesem unserem Lande gibt, dann hat er zur Versöhnung wenig beigetragen. Klaus Hartung