„Kein Recht auf Kriegsmüdigkeit“

■ Palästinensische Organisationen im Libanon versuchen, die Bevölkerung von der Flucht ins Ausland abzuhalten / Hauptgrund sind Sorge um individuelle Sicherheit und allgemeine Hoffnungslosigkeit / Bombendrohungen gegen westliche Botschaften als Antwort auf Bereitschaft zu Kontingentaufnahmen von Flüchtlingen

Aus Beirut Petra Groll

„Was beklagen Sie sich, Sie sind doch freiwillig gegangen. Niemand hat Sie gezwungen. Sie wollten es doch so ...“ Ein überaus deutlicher Ton von Entrüstung schwingt in Abu Mohammeds Kommentar mit. Zehn bis zwölf Männer hocken vor der Flimmerkiste, zu sehen ist ein 1982 in WestBerlin gedrehter Videofilm über die Lebensbedingungen palästinensischer Flüchtlinge. Der Palästinenser Jibril Awad, der selbst lange Zeit in Berlin gelebt hat, ist mit der Kamera durch Sammelunterkünfte und private Wohnungen gezogen. Er hat diesen Film gedreht, um seine Landsleute von der Flucht nach West– Berlin abzuhalten oder sie wenigsten vor der Mär vom gelobten Land zu warnen. Die Eindrücke, die er gesammelt, vermitteln daher im wesentlichen die schrecklichen, unmenschlichen Seiten, Berliner Flüchtlingselend eben. Heute ist es nicht mehr so einfach, nach West–Berlin zu gelangen. Heute können die Palästinenser nicht mehr ohne weiteres nach West–Berlin einreisen, nachdem die DDR im vergangenen Oktober die bis dato relativ unkontrollierbaren Grenzübergänge am U– Bahnhof Friedrichstraße für Reisende ohne gültige BRD–Visa geschlossen hat. Aber wo ein Wille ist, da findet sich auch ein Weg. Das wissen auch die palästinensischen Orga nisationen im Libanon, dem Herkunftsland der meisten in die BRD geflohenen Palästinenser. Die Organisationen arbeiten gegen den Strom der Zeit. Awads Film ist nur eines von vielen Mitteln, die Bewohner der Flüchtlingslager von einer erneuten Flucht abzubringen. Von Massenpropaganda in Wort und Bild, bis zum detaillierten Gespräch mit einzelnen Familien, die sich mit Auswanderungsgedanken tragen, wird alles nur mögliche versucht. Geschichte von Massakern und Flucht Es ist nicht die Wirtschaftskrise, sondern wieder einmal das Problem individueller Sicherheit, das viele Palästinenser zur Flucht aus dem Libanon treibt. Die palästinensische Geschichte der vergangenen 40 Jahre ist von immer neuen Fluchtwellen gekennzeichnet, die jeweils nach Massakern an der Zivilbevölkerung einsetzten. Die damit wachsende Verstreuung ist zu einem Problem geworden, das die Organisationen durchaus als Bedrohung ansehen. Besonders die Bewohner der umkämpften Lager im Libanon haben wenig Sympathie für Landsleute übrig, die sich im Ausland in Sicherheit gebracht haben. „Verräter“ sagt Abu Mohammed und steht mit diesem vernichtenden Urteil durchaus nicht allein da. Die politischen Parteien sehen freilich auch die westlichen Auf nahmeländer im Komplott mit Imperialismus und Zionismus. „Unsere Feinde versuchen schon lange, die Lager zu zerstören und immer neue Wege für die Auswanderung zu öffnen“, sagt Soheil M., Sprecher der „Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas“ in Beirut. „Wie sollten wir Regierungen als Freunde ansehen, die nicht einmal die PLO als Führung der Palästinenser anerkennen?“ Die Beiruter Botschaften Dänemarks und Kanadas, derzeit am häufigsten als Auswanderungsziele im Gespräch, erhielten denn auch in den vergangenen Wochen Drohbriefe von mindestens zwei palästinensischen Organisationen. Sollte sich bewahrheiten, was derzeit als heißes Gerücht kursiert, daß nämlich beide Länder zu Kontingentaufnahmen größeren Ausmaßes bereit sind, so würden sie die Quittungen in Bombenform erhalten, warnten die Organisationen. Schlangen vor den Visa–Abteilungen Häufig sind es fast hundert Menschen, die zu den Öffnungszeiten der Visa–Abteilungen bis auf die Straße Schlange stehen. „Es ist eine tiefe Hoffnungslosigkeit, die die Leute treibt“, erläutert Soheil. „Die Berichte, die uns aus Westeuropa erreichen, sind durchaus nicht rosig. Irgendwann stellen die Leute fest, daß sie zwar für libanesische Verhältnisse über sehr viel Geld verfügen, in der sozialen Hierarchie des Westens aber ganz weit unten sind. Auch der kulturelle Unterschied, angefangen bei der Sprache bis zur für Moslems sehr wichtigen Frage der Stellung der Frauen macht ihnen sehr zu schaffen.“ Eine neue Welle von Auswanderungen Trotz aller in den Aufnahmeländern zu erwartenden Schwierigkeiten steht dennoch eine Welle neuer Auswanderungen bevor, sobald die Umzingelung der Lager im Libanon gelockert oder aufgehoben wird. Noch können sich die Männer nicht frei bewegen und halten somit die Familien zusammen. „Wir versuchen wirklich alles, den Lagerbewohnern Unterstützung zu gewähren“, bestätigt auch Emneh S., Verantwortliche der palästinensischen Frauenorganisation in Libanon. „Das ist momentan vor allem finanzielle Unterstützung und sobald es möglich ist, die Bereitstellung von Mitteln, um die zerstörten Wohnungen wiederaufzubauen. Sodann versuchen wir Arbeit zu beschaffen. Für einen Job außerhalb der Lager brauchen Palästinenser eine spezielle Arbeitsgenehmigung. Also wird es allerdringlichste Aufgabe, sehr schnell wieder kleine Handwerksbetriebe und ähnliche Verdienstmöglichkeiten zu schaffen.“ Einzelfallhilfe oder Absorbtion eines Volkes? Das Sicherheitsproblem aber läßt sich gerade von den Palästinensern selbst am allerwenigsten aus der Welt schaffen. Hat ein Palästinenser nicht das Recht, sich nach einer heilen Wohnung, ruhigem Schlaf, einer guten Ausbildung für seine Kinder zu sehnen? Hat ein Palästinenser nicht das Recht, kriegsmüde zu sein? „Nein“, meint Soheil. „Jeder Palästinenser hat eine nationale Aufgabe. Es gibt keine Entschuldigung. Die Geografie ist ein prominenter Faktor bei der Erfüllung dieser Aufgabe. Wir werden keinen palästinensischen Staat sehen, wenn wir nicht den entsprechenden Preis zahlen.“ Und die Angst vor dem Tod? „Es ist auch eine Form von Tod, altersschwach, ohne Ziel und Lebensinhalt zu sterben. Und ohne fatalistisch sein zu wollen, irgendwann stirbt doch jeder einmal. Trifft der Tod einen nicht viel härter, wenn man nicht einmal das subjektive Gefühl eines erfüllten Lebens hat? Was haben unsere Kinder davon, wenn die Eltern zwar für Ausbildung und Schule sorgen, dafür aber die Wurzeln ihrer Identität kappen?“ Sollen denn etwa Menschen in den Libanon zurückgeschickt werden, die nicht mehr kämpfen oder zivilen Widerstand leisten wollen? „Hilfe gewähren zu können, ist Ausdruck einer Zivilisation, die selbst gelitten hat. Dennoch sollten zwei Dinge bedacht werden: Erstens, ob es um Einzelfälle geht, oder die Absorbierung eines Volkes, und zweitens fragen sich die Deutschen nicht, was sie von jemanden zu erwarten haben, der seine eigenen Leute verläßt, wenn er doch dringendst gebraucht wird.“ „Jeder einzelne wird gebraucht“ Soheil weist jedoch entschieden die Anschuldigung zurück, die Menschen würden zu einem Kampf gezwungen, den sie gar nicht führen wollten. „Das ist natürlich Quatsch, dieses ganze Gerede von Zwangsrekrutierung, von drohender Verfolgung durch PLO–Organisationen“, meint er. „Wir haben festgestellt, daß einzelne Leute nur in Organisationen gehen, die im Westen einen schlechten Ruf haben, damit sie später Mitgliedskarten und ähnliche Papiere als Legende ihrer Flucht benutzen können. Was ist das doch für ein Blödsinn. Was wäre einfacher, als durch ein paar ungefährliche, aber gut plazierte Explosionen, z.B. in West–Berlin wieder für ein stark anti–palästinensisches Klima wie in den siebziger Jahren zu sorgen. Es würde uns sicher einen großen Teil der Leute zurückbringen, die wir hier haben wollen. Das tun wir aber nicht. Wir kämpfen für das Leben und das Überleben unseres Volkes. Dazu gehört jeder Einzelne.“