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Geteiltes Echo auf DDR–Amnestie

■ Die Einschätzung in der DDR über die allgemeine Amnestie für Straftäter bleibt abwartend / Vorzeigegeste für Honecker–Besuch in der Bundesrepublik / Neben der Abschaffung der Todesstrafe wurde auch eine Berufungsinstanz am Obersten Gericht beschlossen

Aus Berlin Martha Sandrock

Mit Überraschung und Skepsis wird in der DDR–Bevölkerung die Ankündigung des Staatrates aufgenommen, aus Anlaß des 38. Jahrestages der DDR–Gründung eine allgemeine Amnestie für Straftäter zu erlassen. Wie bereits in einer Teilauflage der taz berichtet, will die DDR nicht nur die Gefängnisse öffnen, sondern hat als erstes Ostblockland auch die Todesstrafe abgeschafft. Außerdem können verurteilte DDR–Bürger in Zukunft beim Obersten Gericht in die Berufung gehen. Dabei wurde eine zweite Instanz, der „Große Senat“, neu geschaffen. „Für jeden hier war das eine totale Überraschung“, beschreibt Wolfgang Templin von der Initiative Frieden und Menschenrechte die ersten Reaktionen in der Hauptstadt. Nicht das „Gefühl von Erleichterung und Hoffnung“ bestimme die gegenwärtigen Diskussionen, sondern vielmehr die Überlegung: „Wie kommt das zustande“. Im Hinblick auf den anstehenden Honecker–Besuch in der Bundesrepublik und die Jubelarien zur 750–Jahr–Feier sei es sicher auch eine „kalkulierte Vorzeigegeste“. Man müsse jetzt genau hinsehen, wie die Amnestie in der Praxis gehandhabt werde. Für einen Großteil der politisch Engagierten, meint Templin, blieben noch viele Fragen offen. Zwar würden im Rahmen der allgemeinen Amnestie auch politische Gefangene entlassen, und damit würde ihnen die Wiederein gliederung in die Gesellschaft ermöglicht. Da viele Engagierte selten rechtskräftig verurteilt würden, hätten sie aber nach wie vor keine Grundlage, um soziale Ausgrenzungen wie bspw. Berufsverbote vor Gericht zu bringen. „Keinen großen Anlaß zu Hoffnung“ sieht auch der friedenpolitisch engagierte Herbert Mißlitz, der vor einiger Zeit wegen Wehrdienstverweigerung in U–Haft saß. Eine Amnestie sei lange fällig gewesen, und es werde bereits der böse Scherz gehandelt, jetzt sei endlich wieder mehr Platz in den DDR–Gefängnissen. Skeptisch ist er vor allem hinsichtlich der Einschränkungen der Amnestie, die Personen, die „wegen Nazi–und Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit Spionage oder Mord“ veruteilt sind, ausnimmt. So sei ein Bekannter von ihm beispielsweise wegen Spionage verurteilt worden, weil er einem Freund aus dem Westen seine persönlichen Daten gegeben habe. Die Abschaffung der Todestrafe begrüßt er hingegen uneingeschränkt als „progressive Tendenz“, obwohl er darüber sehr erstaunt war. Denn bei Fluchtversuchen komme sie ja immer noch zum Zuge. Ein anderer DDR–Bürger bezeichnete die Amnestie als „geschicktesten Schachzug seit Jahren“. Dieser „demonstrative Gnadenakt“ sei eine Reaktion des Staates auf das gewachsene Rechtsbewußtsein in der DDR– Bevölkerung. Dennoch könne sich die angekündigte Liberalisierung im DDR–Rechtswesen „als großer Bluff“ entpuppen. Letzlich greife sie nicht „in die von Bürgern täglich empfundene Rechtlosigkeit“ ein. Daran könne auch eine zweite, von der Volks kammer gewählte Berufungsinstanz nichts ändern. Wie in der Sowjetunion, so auch Herbert Mißlitz, müßten die DDR–Bürger gegen „Unkorrektheiten“ von Behörden klagen können. Eine solche „Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt es bis dato in der DDR nicht. Siehe Tagesthema auf Seite 3 und Kommentar auf Seite 4

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