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Frankreichs Knackis auf den Dächern

■ Innerhalb einer Woche haben die Häftlinge in Frankreichs Gefängnissen erste Zugeständnisse erreicht / Hungerstreik von 44 Häftlingen in Aix–en–Provence / Die Regierung verspricht mehr Freigänge und will Haftstrafen durch „gemeinnützige Arbeiten“ ersetzen

Von Georg Blume

In Frankreichs Knästen steigt die Stimmung mit der Temperatur. Und in diesen Tagen ist der französische Sommer heiß. Bei 40 Grad liegen die Temperaturen in den Gefängniszellen, und eine Abkühlung ist nicht in Sicht: Schon eine Woche lang halten die Unruhen in den französischen Gefängnissen an. „Die Bewegung breitet sich wie ein Steppenfeuer aus,“ schrieb Le Monde am Dienstag. Am Tag zuvor waren 44 Insassen des Knastes in Aix–en–Provence in den Hungerstreik getreten. In der Strafvollzugsanstalt, die für 121 Personen gebaut ist, befinden sich durchschnittlich zwischen 170 und 190 Inhaftierte. Und in Colmar im Elsaß steckten die Häftlinge am Wochenende ihr Bettzeug in Brand. Ihre Kollegen in Fleury–Merogis bei Paris, Marseille, Lille, Rouen und Douai hatten bereits zuvor mit spektakulären Protestaktionen aufgewartet. Über Stunden hielten sie in manchen Städten die Dächer der Gefängnisse besetzt. Hoffnungslos überbelegt Knastrevolten sind für Frankreich nichts neues, hohe Temperaturen nur ein äußerer Anlaß. In Paris gilt das Gefängnis von Pointoise, das seit der Zeit Napoleons kaum renoviert wurde, als bevorzugter Aufenthaltsort gegenüber dem Neubau in Fleury–Merogis, das größte Gefängnis des Landes, das mit über 5.000 Gefangenen hoffnunglos überbelegt ist. In dem Marseiller Knast „Les Baumettes“ hat ein starkes Polizeiaufgebot die rund hundert meuternden Häftlinge gewaltsam zum Rückzug von dem Dach bewegt, wo sie sich vier Stunden aufgehalten hatten. Sieben davon stehen unter Anklage. Am Dienstag hat der Marseiller Verband der Anwaltsgewerkschaft SAF eine Kommission zur Untersuchung der Haftbedingungen im Marseiller Gefängnis gefordert. Die grauenhaften Zustände in den französischen Knästen sind seit langem ein offenes Geheimnis. In diesem Jahr kam die Revolte erwartungsgemäß. Denn im Herbst 1986 hatte die noch frische Rechtsregierung ihr Vorhaben angekündigt, mit den Knästen Politik zu machen. Man wollte ihrer mehr bauen und noch dazu nach US–amerikanischem Modell: Privatgefängnis hieß das Rezept von Justizminister Albin Chalandon, mit dem er der schon unter der Linksregierung ständig steigenden Zahl der Häftlinge begegnen wollte. So sicher fühlte sich Chalandon mit seinen Plänen, daß er die Gerichte aufforderte, schärfere Urteile zu sprechen. Von 46.000 Gefangenen 1986 schnellte ihre Zahl in diesem Jahr prompt auf 50.000. Doch während die Überbelegung der Gefängnisse - es gibt offiziell 32.000 Plätze - rasch zunahm, gerieten die „privaten“ Knastbaupläne Chalandons schnell ins Schußfeuer öffentlicher Kritik. Unter der Welle der Entrüstung, die sich mit der Studentenbewegung im Dezember aufbaute, wurde neben anderen Regierungsprojekten auch die Gefängnisprivatisierung begraben. in diesem Jahr keine Amnestie Die heutige Häftlingsbewegung nimmt an der undurchsichtigen Gefängnispolitik Anstoß: Man spürt, daß die politische Diskussion um die Gefängnisse, die mit der Studentenbewegung erstmals seit Jahren wieder aufflammte, heute verebbt und folgenlos bleibt, während sich die konkreten Haftbedingungen weiter verschlechtern. Hinzu kommt, daß Mitterrand aus wahltaktischen Gründen in diesem Jahr darauf verzichtete, eine Amnestie zum 14. Juli zu verkünden, wie sie seit seiner Amtsübernahme üblich gewesen war. Der Protest, so scheint es, bleibt nicht erfolglos. Am Freitag verfaßte Chalandon ein ministerielles Rundschreiben, in dem er die Gerichte aufruft, Haftstrafen durch gemeinnützige Arbeit zu ersetzen, „wann immer dies möglich ist“. Er versprach zudem, den „Rhythmus der Freigänge“ zu erhöhen, den Gefangenen also mehr Außenaufenthalte zu ermöglichen. Gleichzeitig aber droht der Minister mit Sanktionen: Er ließ Strafverfahren gegen sieben Häftlinge in Marseille wegen Anstiftung zur Rebellion einleiten. Ob die Häftlinge sich durch die Maßnahmen des Justizministers einschüchtern oder beruhigen lassen, ist noch offen. Doch die Regierung von Premierminister Chirac hat bereits einen schweren Glaubwürdigkeitsverlust erlitten: Nachdem Chalandon lange Zeit damit protzte, immer mehr angebliche Kriminelle einzusperren, ist er heute gezwungen, das genaue Gegenteil zu bekunden. Das ist Wasser auf die Mühlen des Rechtsradikalen Le Pen, verspricht aber vorerst Erleichterungen für die Gefangenen.

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