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I N T E R V I E W „Zwei Schlüssel für französische Atomwaffen“

■ Pierre Messmer, Fraktionschef der Gaullisten, will Kanzler Kohl den zweiten Schlüssel für die Neutronenbomben anbieten

Als enger Vertrauensmann de Gaulles war Pierre Messmer Frankreichs ausdauerndster Verteidigungsminister der Nachkriegszeit (1960–1969). Unter Pompidou wurde er Premierminister (1972–1974). Heute besetzt Messmer als Fraktionschef der Regierungspartei von Premierminister Jacques Chirac (RPR) eine Schlüsselfunktion innerhalb des rechten Mehrheitslagers. Man sah in ihm lange Zeit die Inkarnation der gaullistischen Verteidigungsdoktrin, und er gilt auch heute noch, vielleicht zu unrecht, als orthodoxer Alt–Gaullist. taz: Die Diskussion um die Doppel– nullösung, also um die Verschrottung der europäischen Atomraketen mit einer Reichweite ab 500km, scheint abgeschlossen. Welche Konsequenzen zieht Frankreich aus der Entscheidung der Großmächte? Pierre Messmer: Das Problem der Null– oder Doppelnullösung ist in der Tat überholt. Was die Konsequenzen betrifft, heißt die eigentliche Frage, die sich niemand zu stellen traut: Soll man in Zukunft über die Doppelnullösung hinausgehen, soll man auf die taktischen Atomwaffen verzichten, um zu einer Art Entnuklearisierung Europas zu gelangen oder nicht? Über die französische Antwort auf diese Frage bestehen keine Zweifel? Für Frankreich kommt dies weder für die taktischen noch die strategischen Atomwaffen in Frage. Soll diese Antwort auch über Frankreich hinaus für Westeuropa gelten? Eine Verteidigungsstrategie für Westeuropa muß sowohl auf der taktischen wie der strategischen atomaren Abschreckung beruhen. Ich wünsche eine weitere Abrüstung, über die Doppelnullösung hinaus weder für die Verteidigung Europas noch für die Verteidigung der Bundesrepublik. Sie sprechen von der Verteidigung Europas und der Bundesrepublik, aber eine westeuropäische Verteidigungskonzeption, oder auch nur eine deutsch–französische gibt es nicht. Frankreich und Deutschland bilden eine strategische Einheit. Die Verteidigungsstrategien beider Länder sind verurteilt, gleich zu sein. Aber sie sind es nicht. Wie wollen Sie den Widerspruch zwischen der Verteidigungsstrategie der NATO und jener Frankreichs lösen? Wir lehnen den NATO–Oberbefehl ab. Eine langfristige Perspektive für die Verteidigung Europas kann nur eine Verteidigung mit europäischen Mitteln sein. Es liegt nicht in der Natur der Dinge, daß die Amerikaner auf Ewigkeit die Sicherheit Europas garantieren. Es geht um ein Bündnis mit den USA, das nicht unbedingt amerikanische Mittel in Europa verlangt. Welche konkreten militärischen Schritte schlagen Sie vor? Ich wünsche offen gestanden, daß es zu deutsch– französischen Verhandlungen über die Frage der „Zweischlüssellösung“ für dann in Deutschland zu stationierende französische taktische Atomwaffen vom Typ Pluton oder Hades kommt. Das ist eine Frage des gegenseitigen Vertrauens. Ich glaube, daß eine Diskussion über die Zweischlüssellösung bei den taktischen Atomwaffen mit einer Vertragsperspektive möglich ist. Wie wäre dies militärtechnisch machbar? Technisch ist das möglich. Politisch verlangt es das Einverständnis der zwei Männer, die die Einsatzentscheidung für die Waffen zu tragen haben, d.h. der Bundeskanzler und der Präsident der Republik. Paßt die Neutronenbombe in eine deutsch–französische Vereinbarung über taktische Atomwaffen? Die Neutronenbombe ist das Mittel, dem Dilemma der widersprüchlichen deutschen und französischen Anforderungen zu entkommen. Die Neutronenbombe erlaubt einerseits, Bundeskanzler Kohl entgegenzukommen, der sagt, daß Deutschland nicht zerstört werden darf, denn sie ist keine Waffe der massiven Zerstörung. Sie entspricht andererseits der militärischen Anforderung Frankreichs, das seine Armee auf deutschem Boden nicht ohne taktische Atomwaffen eingreifen lassen kann. Wer könnte denn am besten als französischer Präsident die Verhandlungen mit Bonn über die Stationierung der Neutronenbombe in der Bundesrepublik führen? Ach wissen Sie, auf diesem Gebiet reagieren wir alle gleich. Das ist der posthume Erfolg des Generals de Gaulle. Fürchten Sie eine negative Reaktion der bundesdeutschen öffentlichen Meinung auf solche Vorhaben? Bei der Antwort auf diese Frage bin ich sehr vorsichtig. Wir Franzosen haben in atomaren Fragen nicht die gleiche Sensibilität wie Sie. Unsere Öffentlichkeit ist sicherlich ausgeglichener als die Ihre. Befindet sich die französische Verteidigungsdoktrin, zumal was die taktischen Atomwaffen betrifft, im Umbruch? Der Begriff der atomaren Abschreckung hat sich nicht verändert. Wir sind weiterhin überzeugt, daß die Atomwaffe zuerst eine Abschreckungswaffe ist. Darüber hinaus muß man der Entwicklung der Technik Rechnung tragen. Mit der Technik verändert sich die Anwendung einer Doktrin. Man darf nicht dogmatisch, man muß pragmatisch sein. Das Gespräch führten Georg Blume und Mycle Schneider.

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