I N T E R V I E W „Die Neutronenbombe muß auf deutschem Boden stehen“

■ Charles Hernu, Präsident Mitterrands engster militärischer Berater, plädiert für ein deutsch–französisches Atombündnis

Über vier Jahre war Charles Hernu Frankreichs erster sozialistischer Verteidigungsminister, bis er aufgrund der Greenpeace–Affaire im September85 seinen Hut nehmen mußte. Seit Beginn der sechziger Jahre gehört Hernu zum engsten Vertrautenkreis des heutigen Präsidenten. Hernu stand Mitterrand bereits als Verteidigungsexperte zu Diensten, als dieser noch vor seiner ersten Präsidentschaftskandidatur 1965 ein Randdasein in der französischen Linken fristete. In den siebziger Jahren war Hernu Architekt der sozialistischen Kehrtwende in der Verteidigungspolitik. Man schreibt ihm zu, französische Sozialisten und Armee versöhnt zu haben. Als Verteidigungsminister setzte er sich erfolgreich für eine Annäherung zwischen Paris und Bonn ein. Heute ist Hernu im Falle des Rücktritts von Mitterrand ein möglicher Präsidentschaftskandidat der Sozialisten. taz: Mit den Abrüstungsvorschlägen von Gorbatschow und der bevorstehenden Einigung der Großmächte über den Raketenabbau in Europa hat die Diskussion um die westeuropäische Verteidigung Aufwind bekommen. Wie beurteilen Sie die Aussichten einer gemeinsamen deutsch–französischen Verteidigungspolitik für die Zeit nach der Doppelnullösung? Charles Hernu: Wir müssen aufpassen. Die Gorbatschow–Vorschläge fordern uns heraus. Es gibt keine europäische Verteidigung. Die Sicherheit in Europa wird einerseits durch die atlantische Allianz und andererseits durch den deutsch–französischen Pfeiler gewährleistet. Als ich Verteidigungsminister war, bin ich auf der politischen Ebene der erste gewesen, der gesagt hat, daß Frankreich und Deutschland heute gemeinsame strategische Interessen haben. Drücken sich diese gemeinsamen Interessen in der Diskussion um eine gemeinsame deutsch–französische Brigadeeinheit aus, wie sie Bundeskanzler Kohl vorgeschlagen hat? Es ist zwei Jahre her, daß ich von einer solchen Brigade gesprochen habe. Die großen Probleme liegen anderswo. Gibt es eine gemeinsame Strategie? Stationieren wir unsere taktischen Atomwaffen auf deutschem Boden? Ja oder nein. Noch lautet die Antwort nein. Noch sind unsere taktischen Atomwaffen Abschreckungswaffen im Sinne der „ultime avertissement“ (“letzten Warnung“) und keine Gefechtswaffen. Wir müssen uns aber neue Fragen stellen. Unsere deutschen Freunde sorgen sich um den Einsatz der taktischen französischen Atomwaffen. Sie haben recht. 1981 sagten mir die deutschen Verantwortlichen, daß man mit den taktischen Waffen nicht auf Westdeutschland schießen dürfe. 1985 erzählten sie mir, daß man sie nicht auf Ostdeutschland schießen dürfe. Sie haben recht. Eine Einigung mit der Bundesregierung über den Einsatz dieser Waffen wird die große Aufgabe des nächsten französischen Präsidenten sein. Dies wird um so wichtiger, wenn die Hades–Rakete die Pluton ersetzt, und sich die Reichweite unserer Waffen ändern wird. Dies erlaubt uns den Deutschen entgegen zu kommen. Denn mit den 120km Reichweite der Pluton erreicht man die Köpfe der Deutschen, doch mit der Hades, mit einer Reichweite von 350km... ..erreicht man von Frankreich die DDR. Wenn man die Hades auf deutschem Boden stationiert, reicht sie auch über die Grenze der DDR hinaus. Welche militärischen und strategischen Absprachen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik sind wünschenswert für den Fall, daß die Hades als Trägerwaffe der Neutronenbombe in der Bundesrepublik stationiert werden soll? Der französische Staatschef befiehlt über den Einsatz der Hades. Wenn die Hades auf deutschem Boden steht, stellt sich also ein Problem für die deutsche Unabhängigkeit. Ich sage, daß die Hades, mit der Neutronenbombe bestückt, auf deutschem Boden stehen muß, und daß ich es in diesem Fall nicht verstünde, wenn es dann zwischen den Deutschen und uns keinen bilateralen Informationsaustausch gäbe. Soweit gehe ich. Ich sehe auch nicht, warum wir nicht die Bundeswehr mit der Hades ausrüsten sollten. Wollen Sie der Bundesregierung in einem solchen Fall die „Zweischlüssellösung“ für den Einsatz der französischen taktischen Atomwaffen anbieten? Ich würde da nicht zögern. Dabei sage ich nicht, daß die Deutschen über Atomwaffen verfügen sollen. Die Sowjets würden dies nicht tolerieren. Nicht nur die Sowjetunion, auch die NATO könnte für Ihre Vorschläge ein Hindernis sein. Die Bundesrepublik steht unter NATO–Oberkommando, Frankreich nicht. Wir leben in einer dramatischen Situation. Deutschland ist in der NATO, Frankreich nicht. Deutschland hat keine atomare Abschreckung, Frankreich hat sie. Das sind zwei widersprüchliche strategisch–juristische Ausgangssituationen, denen die NATO–Struktur heute nicht gerecht wird. Man muß den Mut haben, dies zu sagen. Für mich besteht die Lösung nicht darin, daß Frankreich in die NATO zurückkehrt. Die Lösung wäre, daß Deutschland mehr Freiheit hat, die gleiche Freiheit wie Frankreich, so daß es deutsch–französische Verträge geben kann. Glauben Sie, daß die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Ihre Pläne akzeptieren würde? Es gibt heute schon Atomwaffen auf deutschem Boden, und zwar einen ganzen Haufen. Wie wollen Sie gerade deshalb rechtfertigen, dem noch neue Atomwaffen hinzuzufügen? Mit der öffentlichen Verkündung eines deutsch– französischen Sicherheitsbündnisses in vielleicht ein oder zwei Jahren. Die Dinge müssen vorankommen. Sie sind der persönliche Freund und Berater Franois Mitterrands. Wer sind die Verantwortlichen, die diese Dinge vorantreiben werden? Mitterrand hatte den Mut, den deutsch–französischen Freundschaftsvertrag auch militärisch umzusetzen. Bei ihm gibt es keine Blockierung. Bei Wörner gibt es auch keine Blockierung. Er ist ein junger Kerl, er war Pilot in der französischen Armee. Ich selbst habe auch keine Blockierung. Wo liegt Ihrer Kenntnis nach der Stand der Entwicklung der französischen Neutronenbombe? Die Versuche mit der Neutronenbombe sind abgeschlossen. Wir wissen, wie man sie konstruiert, und wie man sie produziert. Alles ist bereit, und die öffentliche Meinung steht hinter uns. Es fehlt allein die Unterschrift des Präsidenten. Ich wünsche, daß er unterschreibt. Das Gespräch führten Georg Blume und Mycle Schneider.