Flexibler Schießbefehl der DDR

■ Ex–DDR–Grenzsoldat: DDR verzichtet vor allem im Jubiläumsjahr auf Schießbefehl / Während des Besuchs von Staatsgästen in West–Berlin herrscht „Sicherheitsperiode“ / Warnung vor leichtfertigen Fluchtversuchen

Von Benedict M. Mülder

Berlin (taz) - Der Schießbefehl an der Grenze zum Bundesgebiet und insbesondere zu West–Berlin wird gegen „Grenzverletzer und Sperrbrecher“ zunehmend flexibel gehandhabt. Dies bestätigte gestern zum ersten Mal ein ehemaliger DDR–Grenzsoldat, Jens Bernhardt, der Ende Juli nach West–Berlin geflüchtet war. Auf einer Pressekonferenz der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ zum Jahrestag des Mauerbaus erklärte der 20jährige Bernhardt: „Erfolgten in West–Berlin Prominentenbesuche, wie zum Beispiel des US–Präsidenten Reagan oder der britischen Königin, wurde der Grenzeinsatz verstärkt und bei Nacht sogar verdoppelt. Während dieser Sicherheitsperioden war jeglicher Schußwaffengebrauch gegen Flüchtlinge verboten.“ An insgesamt 25 Tagen im Mai, Juni und Juli, am Tag der Tour de France genauso wie am 17. Juni, sei den Grenzsoldaten mit Verweis auf besondere Veranstaltungen und Besuche befohlen worden, auf den Schußwaffengebrauch zu verzichten. Auch Warnschüsse hätten nicht abgegeben werden dürfen. Der Waffengebrauch sei nur gegen Fahnenflüchtige und bei Bedrohung des eigenen Lebens erlaubt gewesen. Bernhardt warnte indes, wie auch die „Arbeitsgemeinschaft“, davor, die „Sicherheitsperiode“ als besonders günstige Gelegenheit für eine Flucht zu begreifen. „Die Posten stehen so dicht, daß man praktisch mit der bloßen Hand weggefangen werden kann“, meinte Bernhardt. Die Abstände zwischen den Doppelposten würden in dieser Zeit auf 50 bis 100 Meter verringert werden. „Es besteht aber auch keine letzte Gewähr, daß nicht doch geschos sen werden könnte“, betonte er. Unter den Grenzsoldaten sei der Schießbefehl jedoch das Thema Nr.1. Zahlreiche Soldaten würden lieber in den Sand, als auf einen Flüchtenden schießen. Der Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft“ Hildebrandt zog aus dem Bericht die Konsequenz, daß die DDR den Schießbefehl ohne Inkaufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingen aufheben könne. Ohnehin sei die Entwicklung des Sicherungssystem weit vorangeschritten. So berichtete zum Beispiel ein 1986 geflüchteteter Soldat, der mit Wartungsarbeiten an der Grenze beschäftigt war, von einem neuen, mikroelektronisch arbeitenden Zaun mit der Typenbezeichnung GSZ A 80, der gegenwärtig erprobt werde. Ein Kommandeur habe den neuen Typ so gekennzeichnet: „Wenn die Grenzsicherung weiter so perfektioniert wird, kann Anfang der 90er Jahre auf den vorderen Grenzzaun verzichtet werden.“ Mauer und Stacheldraht könnten dann wegfallen, meinte der Ex– Soldat. Seit dem Mauerbau am 13. August 1961, so die Angaben der Arbeitsgemeinschaft, sind bisher 188 Menschen bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Seit Beginn dieses Jahres gab es insgesamt knapp 3.000 gelungene Fluchtversuche, dreimal endeten sie tödlich. Insgesamt wurden die Grenzsperren in den letzten 26 Jahren von 39.335 Menschen überwunden. Die Zahl der „Sperrbrecher“ sank unterdessen von 721 im Jahre 1977 auf 210 im letzten Jahr. In den ersten sieben Monaten 1987 gelang 112 Menschen die Flucht über Mauer und Stacheldraht. Dafür erhöht sich die Zahl der bewilligten „Westreisen“ in diesem Jahr auf wahrscheinlich eine Million.