Ist der Atomkrieg sittenwidrig?

■ Ärzte verweigern Mitarbeit bei der Entwicklung einer Pille gegen Strahlenkrankheit / Firma reagierte prompt mit Kündigung / Ein Medikament, das den Atomkrieg „handhabbarer“ macht / Arbeitsgericht wies Kündigungsschutzklage ab - „die subjektiven Moralvorstellungen des einzelnen sind nicht maßgebend“

Von Manfred Kriener

Militärstrategen kennen keine Tabus. Im ausgehenden 20. Jahrhundert gehört zur vorausschauenden Militärplanung auch ein detailliertes Nachdenken über das „Undenkbare“: den Atomkrieg. Ein realistisches Atomkriegsszenarium wiederum muß auch Überlegungen einschließen über mögliche Operationen von Soldaten in radioaktiv verseuchten Zonen und über die Soforthilfe für verstrahlte Soldaten zur Aufrechterhaltung der Kampfkraft der Truppe. Soldaten im Atomkrieg - sollten sie überleben - werden vor allem an Übelkeit und Erbrechen leiden, den ersten Symptomen der akuten Strahlenkrankheit. Bei 300 rem Ganzkörper–Belastung wird z.B. mit „zirka 20 Prozent Todesfällen gerechnet“, jedoch erkranken „alle bestrahlten Personen zunächst mit Übelkeit und Erbrechen“, so das Innenministerium in einem vertraulichen Papier über „akute Strahlenwirkungen“. Perversion des ärztlichen Tuns Gegen Übelkeit und Erbrechen helfen sogenannte Anti–Emetika, Arzneimittel, die z.B. bei Migräne und in der Krebstherapie eingesetzt werden, die aber auch die Symptome der Strahlenkrankheit lindern könnten. Ein solches Medikament wird gegenwärtig vom britischen Pharma–Konzern Beecham entwickelt. Es trägt die interne Typenbezeichnung BRL 43694 und soll Mitte der 90er Jahre auf den Markt kommen. Die in Neuss sitzende Tochterfirma Beecham–Wülfing GmbH & Co. KG ist an der Erforschung des neuen Anti–Emetikums maßgeblich beteiligt. Anfang des Jahres faßten die Beecham–Manager den Beschluß, „der Entwicklung von BRL 43694 die höchste Priorität weltweit einzuräumen“. Vier Monate später kam es zum Eklat: Der 32jährige Leiter der Abteilung für Humanpharmakologie und stellvertretende Forschungsleiter der Neusser Firma, Bernd Richter, seine Kollegin Brigitte Ludwig und sein Kollege Norbert Neumann verweigerten die weitere Mitarbeit. Ihre Begründung: Aus Gewissensgründen müsse die Bearbeitung der Substanz BRL 43694 abgelehnt werden. Die Mitarbeit widerspreche der Auffassung vom humanitären Auftrag des ärztlichen Berufsstandes. Was die drei Wissenschaftler in die Verweigerung trieb, waren firmeneigene Dokumente und Gesprächsnotizen, aus denen zweifelsfrei hervorgeht, daß das Medikament BRL 43694 nicht nur gegen Migräne, Seekrankheit und in der Krebstherapie eingesetzt werden soll, sondern daß der Konzern auch auf militärische Interessen spekuliert. Die Nato als Großabnehmer? In einer Zusammenfassung der ersten Forschungsergebnisse vom November 1985 heißt es zum Beispiel: „Falls sich die Strahlenkrankheit durch die Krebstherapie oder als Folge eines Atomkrieges als behandelbar oder verhütbar e sich tragen“, um sie sich selbst im Falle der Verstrahlung gegen Erbrechen und Übelkeit zu injizieren. Deshalb sieht die Firma, so ist in Klammern beigefügt, einen gewaltigen Markt (“huge market“) auf diesem Gebiet. Bei einem Informationsgespräch beim Mutterkonzern in England, an dem Brigitte Ludwig teilgenommen hatte, wurde die militärische Implikation des Arzneimittels bestätigt. Auch hier war vom „riesigen Markt bei Nato–Soldaten“ die Rede. Den drei Ärzten reichten diese Hinweise. Bernd Richter: „Das war für uns Anlaß genug zu sagen, da können wir nicht mitmachen. Wir können nicht an der Erforschung eines Medikaments teilhaben, dessen Anwendung den Sinn unseres ärztlichen Tuns pervertiert.“ Diese Entscheidung wurde der Firma Ende April dieses Jahres mitgeteilt. Doch die Firmenleitung war nicht bereit, die Haltung der drei Mediziner zu akzeptieren. Nach mehreren Gesprächen erfolgte drei Wochen später die Kündigung der vermeintlichen Rebellen wegen „Arbeitsverweigerung“. Bernd Richter: „Wir sind sofort nach der Kündigung von der Firma freigestellt worden und hatten kaum noch Zeit, uns von den Kollegen zu verabschieden.“ Huge market Vergangene Woche trafen sich die Beteiligten vor dem Arbeitsgericht Mönchengladbach wieder. Richter und seine Kollegin Brigitte Ludwig waren nämlich nicht bereit gewesen, die Kündigung hinzunehmen und hatten auf Wiedereinstellung geklagt. Vergeblich: Auch Arbeitsrichter Mostardt wies die medizinisch–ethi schen Bedenken der beiden Pharmakologen zurück. „Die Kündigung“, so beschied das Gericht in seinem Urteil, „ist aus verhaltensbedingten Gründen sozial gerechtfertigt (...) der Kläger hat gegen seine Pflichten aus dem Arbeitsvertrag verstoßen.“ Eine Weiterbeschäftigung sei dem Arbeitgeber nicht mehr zuzumuten. „Ich kann mein Gewissen nicht zweiteilen“ Die militärische „die Substanz (wird) der Nato zur weiteren Erprobung übergeben“. Die Firmenleitung selbst hat die mögliche militärische Nutzung des Medikaments nie bestritten. Personalchef Horst Pietrek sieht das Unternehmen sogar verpflichtet, „alle Möglichkeiten für einen guten Umsatz anzuzapfen. Wir verschließen uns keinem Umsatz, aber es müssen legale Institutionen sein, für die wir arbeiten.“ Gleichzeitig wird von Hersteller– Seite betont, daß die „primäre Intention“ der Einsatz des Anti– Emetikums gegen Übelkeit nach der Chemotherapie von Krebskranken sei. Der gefeuerte Mediziner Bernd Richter zu dieser Argumentation seines Ex–Arbeitgebers: „Wenn in den Forschungspapieren solche Formulierungen auftauchen wie huge market bei Nato–Soldaten, und wenn ich weiß, das ist ein gewinnorientiertes pharmazeutisches Unternehmen, dann sehe ich da eine Intention. Und es ist mir egal, ob das die primäre Intention des Arzneimittels ist oder die sekun däre. Ich weiß dann wo der Hase langläuft. Es geht mir gar nicht darum, der Firma hundertprozentig nachzuweisen, daß das in die militärische Richtung geht. Aber wir haben von bestimmten Dingen Kenntnis erhalten, es sind bestimmte Äußerungen gefallen, und das genügt uns, um zu sagen, wir können da nicht mit gutem Gewissen mitmachen. Die Firma hat die militärische Potenz dieser Substanz erkannt und auch systematisch verfolgt. Und das reicht mir.“ Richter weiß, daß er - als kleines Rädchen in einem internationalen Konzern - die Entwicklung des Medikaments nicht aufhalten kann. Das habe er auch nie beabsichtigt. Ihm gehe es nur um seine ganz persönlichen Gewissensgründe. „Und ich kann mein Gewissen doch nicht zweiteilen und sagen, wir konzentrieren uns nur auf die nette und ethisch unfragwürdige Komponente der Krebstherapie und vergessen das andere. Für Militärstrategen macht solch ein Medikament den Atomkrieg handhabbarer. Und wenn ich dazu beitrage, und sei es nur ein winziger Schritt, dann kann ich das nicht vertreten.“ Pille kein Verstoß gegen den Anstand Das Arbeitsgericht ließ diese Bedenken und den Hinweis auf den Ärzte–Eid (“Ich gelobe feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen...“) nicht gelten. Es unterstellte den Klägern weltanschaulich–politische Gründe als Motivation für ihre Weigerung und zog sich darauf zurück, daß es eine ganze Reihe von Medikamenten gebe, die „auch im Kriegsfall von Bedeutung sind“. Die entscheidende Passage der Urteilsbegründung: „Ein Leistungsverweigerungsrecht hätte der Kläger dann, wenn die Arbeitsanweisungen gegen Gesetz oder gegen gute Sitten verstoßen hätten. (...) Für die Sittenwidrigkeit kommt es darauf an, ob die Weisung des Arbeitgebers dem Rechts– und Anstandsgefühl aller Billig– und Gerechtdenkenden widerspricht. Die subjektiven Moralanschauungen des Einzelnen sind hier nicht maßgebend. Die Vorschrift schützt ein (...) ethisches Minimum, nicht dagegen das in eine bestimmte Richtung besonders stark ausgeprägte Gewissen einzelner. Die Entwicklung einer Substanz, die auch im Kriegsfall Anwendung findet, kann nicht als Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller Billig– und Gerechtdenkenden gesehen werden. (...) Es kann hier keine Rolle spielen, daß nach Auffassung des Klägers die Entwicklung dieser Substanz einen nuklearen Krieg denkbarer erscheinen läßt.“ Ernst–Jörg Zehelein, Geschäftsführer von Beecham–Wülfing freut sich, daß der Arbeitsrichter so „emotionslos“ an die Sache herangegangen sei. Das Urteil sei die logische Konsequenz des Verhaltens von Herrn Richter. „Uns geht es doch um die Krebskranken“, erklärte Zehelein, und: „Es ist doch Quatsch, den Fall so hinzustellen, als ob wir morgen mit unserem Medikament den Atomkrieg möglich machen.“ Für Beecham–Wülfing ist der Fall Richter zunächst erledigt, sobald der ehemalige Leiter der Humanpharmakologie sämtliche Unterlagen über BRL 43694 zurückgegeben hat. Denn auch dazu hat ihn das Arbeitsgericht explizit verpflichtet. Bernd Richter wird sich mit diesem Urteil nicht zufrieden geben. Er hat angekündigt, den Weg durch die Instanzen zu gehen. Berufung eingelegt Vor dem Landesarbeitsgericht in Düsseldorf wird die nächste Etappe dieses in der Bundesrepublik einmaligen Falles ausgefochten. Vielleicht findet in dieser Berufungsinstanz ein weiteres Dokument Eingang in die Gerichtsakten. Bei privaten Recherchen eines Arzt–Kollgen von Bernd Richter kam es nämlich auch zu einem Briefwechsel mit dem Bundesministerium der Verteidigung. Auf die entsprechende Anfrage teilte dieses mit Schreiben vom 24. Juli unverblümt mit: „Aus der Sicht des Bundesministeriums der Verteidigung besteht auch für die Bundeswehr Bedarf an einem Arzneimittel, das nach Strahlenexposition den quälenden Brechreiz mindert.“