Der Libanon wird „dollarisiert“

■ Der rasante Verfall der Landeswährung führt zu einem Ansturm auf Devisen / Die Preise steigen über Nacht: Immer mehr Geschäfte zeichnen ihre Waren in Dollar oder Franc aus / Die Stadtverwaltung von Tripoli und der einzige staatlich autorisierte Radiosender haben bereits aus akutem Geldmangel ihre Arbeit eingestellt

Aus Beirut Petra Groll

„Gestern nachmittag also gehe ich beim Laden vorbei und frag, ob es Reis gibt. Meine Frau sagt, wir haben fast alles aufgegessen. Es gibt welchen und ich denk, gut, nehm ich also zwanzig Kilo mit. Sag Bescheid, und daß ich eben noch ein paar andere Sachen erledigen und den Reis dann auf dem Rückweg abholen will. Es wird etwas später, der Laden hat schon geschlossen, als ich wiederkomme. Auch gut, denk ich, das versteh ich, da komme ich eben gleich früh am Morgen wieder.“ Inzwischen steht die Sonne hoch am Himmel. Abu Ghabi, der die Geschichte beim Zeitungshändler zum besten gibt, wird noch immer rot vor Zorn, wenn sich seine Erzählung dem Höhepunkt nähert: „Da soll ich doch heute Morgen mehr bezahlen als gestern abend, weil der Dollarkurs heute morgen etwas höher angesetzt wird als gestern abend.“ Vornehm werden die Folgen des katastrophalen Verfalls der Libanesischen Lira (L.L.) als „Dollarisierung“ bezeichnet. Im Alltagsleben verbergen sich dahinter die bedrückenden Symptome einer in dreizehn Kriegsjahren ruinierten Nationalökonomie und einem ebensolange existierenden, hemmungslosen Kriegsgewinnlertum. Die Landeswährung, so schätzen Experten, hatte im ersten Halbjahr 87 einen Kaufkraftverlust von 300 Prozent zu verzeichnen. Der Wert der L.L. hat in den vergangenen zwei Jahren einen dramatischen Sturzflug erlebt: Wurde im Dezember 1985 ein US–Dollar noch gegen 18.10 L.L. getauscht, gab es ein Jahr später, im Dezember 1986, schon 87.00 L.L. pro Dollar, im April 87 118.00 L.L. und am 19.08.87 wurde ein US–Dollar gar gegen 236.00 L.L. getauscht. Das Personal vieler Geschäfte und Supermärkte macht sich schon gar nicht mehr die Mühe, die vielfach überklebten Preisschilder auf den Waren neu auszuschreiben. Auch die Auslagen in den Schaufenstern, allen voran natürlich die Importwaren (ca. 90 Prozent aller Konsumgüter Libanons), werden vielfach in Dollar oder Franc ausgezeichnet. An der Kasse liegt der Taschenrechner. Auch Wohnungsmieten werden zunehmend in Dollar verlangt. Auf der Straße kann man mittlerweile auf einen Blick erkennen, wer eine etwas höhere Rechnung zu begleichen hat. Große braune Briefumschläge signalisieren Zentimeter um Zentimeter die größten libanesischen Banknoten zu 250 L.L.. Die libanesische Fluggesellschaft „Middle East Airlines“ forderte ihre Kundschaft bereits vor Wochen auf, beim Besuch des Verkaufsbüros in Beirut niemals mehr als das fürs Ticket benötigte Geld bei sich zu tragen, nach Möglichkeit aber mit Schecks zu bezahlen. So ließe sich erstens das langwierige Zählen der nahezu wertlosen Scheine und ergo lange Wartezeiten vermeiden, andererseits sei ein Scheck weniger auffällig zu transportieren...Schecks kämen also auch der Sicherheit der verehrten Kundschaft entgegen. Überlegungen der libanesischen Zentralbank, neue Noten mit höheren Werten zu drucken, wurden bislang nicht abgeschlossen. Die Ursachen der Wirtschaftskrise des einstmals für seine Prosperität „Schweiz des Nahen Osten“ geschmeichelten LevanteStaates lassen sich schnell durchschauen: jahrelanger Krieg, Zerstörung und politische Verwüstung zwingen jedes noch so stabile Wirtschaftssystem in die Knie. Libanons größter Einkommenssektor lag lange Zeit im Dienstleistungsbereich, der von den instabilen politischen Verhältnissen ungleich stärker beeinflußt wird als Produktionsbereiche. Golfkrieg und Petrokrise haben besonders für den Libanon verheerende Folgen, denn einerseits arbeiten viele libanesische Banken mit Petro–Kapital, andererseits haben die Zahlungen der Libanesen, die in den Golfländern arbeiten, ständig nachgelassen. Chronischer Mangel an Brot und Benzin Die wegen der innenpolitischen Anarchie absolut unkontrollierbaren Staatseinnahmen und -ausgaben werden mit einem auf 80 Milliarden L.L. jährlich errechneten Defizit belastet. Seit mehr als einem Jahrzehnt durchschaut niemand mehr, wie Telefon und Strom, Steuern, Subventionen für öffentliche Arbeiten, Weizen und Ölprodukte finanziert werden. Ein immenser Schwarzmarkt für alles, was das Herz begehrt, ist entstanden, seit die Häfen von Milizen kontrolliert werden. Zolleinnahmen fließen nur noch über den internationalen Flughafen Beirut regelmäßig ins Staatssäckel. Vom Schmuggel zwischen Israel und Libanon erfährt man immer wieder aus den israelischen Medien. Durch die Berge an der syrisch–libanesischen Grenze führen als „Schmuggelpfade“ bekannte Pisten. Von schwarzen Geschäften in großem Rahmen erfährt der Verbraucher täglich, wenn er zum Beispiel Brot oder Benzin kaufen muß. An beidem herrscht chronischer Mangel, der vor allem damit zu erklären ist, daß beide Waren in Libanon subventioniert werden und abzüglich der Transportkosten in Syrien, Israel und Zypern gutes Geld einbringen. In den vergangenen Wochen wurden sowohl die syrischen Besatzungstruppen als auch für die innere Sicherheit zuständige Milizen zur Bewachung der Westbeiruter Tankstellen herangezogen, vor denen oft mehrere hundert PKWs stundenlang und weit vor der Öffnungszeit Schlange stehen müssen, wobei die Nerven der Fahrer in der sommerlichen Hitze zunehmend versagen. Die täglichen Polizeiberichte listen indes die Verhaftungen immer neuer Schmugglerringe und Benzinschieber auf. Öffentliche Arbeiten werden schon seit langem nur noch in bevorzugten Landesteilen durchgeführt, wie etwa in den drusischen Shouf– und Metnbergen, wo Milizchef und Transportminister Walid Junblatt zu Hause ist und gleichzeitig über den Etat seines Ministeriums entscheiden kann. In kaum einem anderen Landesteil findet man so gut ausgebaute Straßen. Im Sommer wird man mit der Nase auf die nicht funktionierende Müllabfuhr gestoßen: Weil die Arbeiter nicht bezahlt werden, erscheinen sie nicht zur Arbeit. Seit Mitte August wird auch die Elektrizitätsversorgung in der Hauptstadt wieder auf zwei Drittel des Tages reduziert. Die Verwaltung der Hafenstadt Tripoli im Nordlibanon kündigte neulich per Zeitungsannonce und mit Bedauern an, daß sie aus finanziellen Gründen sämtliche Arbeiten einstellen muß. Das einzig staatlich autorisierte „Radio Libanon“ gab am vergangenen Wochenende bekannt, seine Sendungen vorläufig einstellen zu müssen, weil weder Löhne noch sonstige Ausgaben finanziert werden könnten und die Studios mittlerweile zu Saunen geworden seien, weil kein Geld da sei, die defekte Klimaanlage zu reparieren. Zwar hat die Angelegenheit einen politischen Beige schmack, denn Staatspräsident Gemayel hat sicherlich nicht vergessen, daß der Sender von der oppositionellen Schiitenbewegung Amal kontrolliert wird, als er eine Fortsetzung der Zahlungen an Radio Libanon ablehnte. Seit Wochenanfang aber hat auch der fünfte Fernsehkanal alle Ausstrahlungen eingestellt, das Personal befindet sich in unbefristetem Streik, weil weder Löhne noch Sozialabgaben der Beschäftigten bezahlt wurden. Die Innenpolitik in der Sackgasse Einer der wichtigsten Gründe für den aktuellen Tiefstand der Landeswährung liegt zweifellos in der libanesischen Innenpolitik, die seit der Ermordung Premierministers Rashid Karamehs Anfang Juni in einer scheinbar ausweglosen Sackgasse steckt. Während das Christenlager eine Kabinettsneubildung fordert und davon ausgeht, daß Interimspremier Semil El–Hos dem regierungslosen Staat zu einer neuen Führung verhilft, bis im September kommenden Jahres Präsidentschaftswahlen stattfinden, boykottieren die moslemischen Oppositionsminister weiterhin den maronitischen Staatspräsidenten Amin Gemayel. Selim El–Hos hat wiederholt bekräftigt, daß er solange nicht bereit ist, eine Kabinettsneubildung vorzunehmen, wie der Mord an seinem Amtsvorgänger Rashid Karameh nicht geklärt ist. Libanesische Banker schätzen, daß ca. 90 Prozent aller Bankeinlagen in US–Dollar vorgenommen werden, das Vertrauen der Libanesen in ihre eigene Währung also verschwindend gering ist. Diese Vertrauenskrise spiegelt sich entsprechend in den ersten Tagen eines jeden Monats wieder, wenn nämlich die Löhne gezahlt werden. Ein rechnerisches Beispiel erhellt den Sturz des Lira zu Monatsbeginn. Geht man von 500.000 Arbeitnehmern aus, die über einen Durchschnittslohn von 8.000 L.L. verfügen (der Mindestlohn im Öffentlichen Dienst beträgt 4.300 L.L.) und ihren Lohn gleich nach Empfang in harte Währung tauschen, dann werden in der ersten Monatshälfe für ca. 400 Millionen Lira Devisen gekauft, und die nationale Währung wird um etliche Punkte in die Tiefe geschleudert. Freilich kann man auch nicht davon ausgehen, daß die 72 libanesischen Privatbanken im nationalen Interesse handeln. Vermutungen, daß die Privatbanken sich an Devisenspekulationen dumm und dämlich verdienen, liegen nahe, sind aber wegen des libanesischen Bankgeheimnisses schwer zu beweisen. Das 1952 verabschiedete Bankgesetz gleicht dem Schweizer System und hat u. a. die Interessen besonders der Golfländer, ihr Petro–Kapital in libanesischen Banken arbeiten zu lassen, erst angeregt. Ob nun die Privatbanken unter diesem Gesichtspunkt gegen die Aufhebung des Bankgeheimnisses sind oder tatsächlich zweifelhafte Geschäfte zu verbergen haben, steht dahin. Die personelle Verquickung von Politik und Kapital (die meisten großen Banken sind in Besitz einflußreicher christlicher Familien) kompliziert die Angelegenheit und gibt Politikern wie Bankern die Möglichkeit, sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben. Untersuchung gegen Verband von Privatbanken Falls jemals Ergebnisse einer Untersuchung bekannt werden, die Anfang Juli gegen die „Societe Financiere Du Liban“ (SOFL) eingeleitet wurde, so darf man schon jetzt davon ausgehen, daß sie wie Sprengstoff wirken, egal zu wessen Gunsten oder Ungunsten sie ausfallen. Der Chef der Schiitenbewegung Amal, Nabih Berri, hatte in seiner Funktion als Justizminister nach einem besonders steilen Anstieg des Dollar–Wechselkurses die Untersuchung der im christlichen Ostbeirut ansässigen Gesellschaft angeordnet und darüber hinaus sogar die Einstellung aller Aktivitäten der SOFL gefordert. Die SOFL, ein Zusammenschluß von 45 libanesischen Privatbanken mit Hauptgesellschaftssitz im phalangistisch kontrollierten Ostbeirut, legte bis dato den täglichen Wechselkurs der L.L. fest. Die Gesellschaft war 1983, zu Beginn des Lira–Sturzes, von zunächst 30 Privatbanken gegründet worden, um dem Beiruter freien Devisenmarkt einen Kontrollmechanismus zu verschaffen. Berris Anschuldigungen sind äußerst schwerwiegend. Seiner Ansicht nach arbeitet die SOFL mit der Christenmiliz „Forces Libanaises“ zusammen, die über den Devisenhebel eine weitere Destabilisierung des Landes betreiben, um ihre politischen Ziele leichter durchsetzen zu können. Abgesehen von Schuldzuweisungen haben die libanesischen Spitzenpolitiker auch Vorschläge für eine Lösung der Wirtschaftskrise vorgelegt. Der nach Interims–Premierminister Selim El– Hoss benannte Plan sieht vor, daß Libanon 20 Prozent der Gelddeckung der Landeswährung verkauft und damit ca. 800 Millionen Dollar einnimmt, die in einen Spezialfonds fließen sollen. Dieser Fonds wiederum soll der libanesischen Zentralbank die Möglichkeit verschaffen, in den Devisenmarkt einzugreifen und Manöver zur Stabilisierung der Lira zu unternehmen. Ein anderer Plan sieht vor, daß Libanon 20 Prozent des Goldschatzes, der die Landeswährung zu 82 Prozent abdeckt, an die Weltbank verpfändet. Die hauptsächlich im maronitisch–bourgeoisen Lager angesiedelten Gegner des Goldmanövers befürchten indes, daß Libanon nie wieder in der Lage sein wird, das Gold zurückzukaufen. Nach ihrer Rechnung würden die 800 Millionen Dollar im besten Fall für sechs Monate das schwarze Loch in der Staatskasse stopfen und keine langfristige Lösung ermöglichen. Sie favorisieren die vom verstorbenen Finanz– und Wirtschaftminister Camille Chamoun vorgeschlagene Aufhebung aller Subventionszahlungen für Ölprodukte und Weizen, um die Staatsausgaben zu minimieren. Derartigen Plänen hat selbstverständlich der Dachverband der libanesischen Arbeiter, die in ganz Libanon ca. 300.000 Mitglieder umfassende CGTL, den Kampf angesagt, und es scheint, daß die entsprechenden Politiker die Drohung eines Volksaufstandes durchaus ernst nehmen. So sind bislang sämtliche Pläne, Vorschläge und Untersuchungen, inklusive einer mit großem „Hallo“ eingesetzten, vierköpfigen Expertenkommission sang– und klanglos im täglich neuen Lamento über den Dollarkurs untergegangen. Staatspräsident Gemayel hat angekündigt, noch in diesem Monat eine Betteltour durch den francophonen Raum zu unternehmen, in der Hoffnung, daß die ehemaligen Kolonialherren sich libanesischer Gastfreundschaft erinnern. Weltbank, Internationaler Währungsfonds, das Wirtschaftsministertreffen der Arabischen Liga, aber auch die EG wurden um Sonderhilfe gebeten, bislang weitgehend ohne Erfolg. Wenn man den Aussagen des für den verstorbenen Chamoun vorübergehend mit dem Finanzressort betrauten Industrie– und Handelsminister Victor Cassir glauben darf, dann stehen die Uhrzeiger auf kurz vor Zwölf. Cassir kündigte der leidgeplagten Öffentlichkeit am Wochenanfang erneut an, daß, wenn nicht die Notbremse gezogen werde, in zwei Monaten sämtliche Öl– und Dieselvorräte aufgebraucht seien und die Staatskasse keine neuen Lieferungen bezahlen könne. Kein Öl und Diesel bedeutet: kein Strom, keine Generatoren für Krankenhäuser, keine Elektrizität für Bäckereien, kein Brot.