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I N T E R V I E W „Wir müssen der Geschichte die Namen zurückgeben“

■ Professor Alexander Galkin, Prorektor des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU, war Teilnehmer des Kongresses „Umbruch in der Sowjetunion?“

taz: Professor Galkin, wenn Sie sagen, daß sich die Sowjetunion 15, 20 Jahre lang in einer Phase der Stagnation, verbunden mit Konservativismus befunden hat, wie konnte da ein Mensch wie Gorbatschow Generalsekretär der Partei werden? Galkin: Da gab es objektive und subjektive Prozesse. Der Drang in der Gesellschaft nach Veränderung war enorm groß und ist immer größer geworden. Alle haben gespürt: Es geht schief, man muß etwas verändern, in den Fabriken, bei der technischen und kulturellen Intelligenz, im Parteiapparat, auf allen Ebenen. Während der ganzen Breschnew–Zeit war schon ein Potential verhanden, das zur Veränderung strebte. Das ist die objektive Seite. Und subjektiv, da gibt es vielleicht Zufälle oder auch nicht. Wenn es nicht Gorbatschow gewesen wäre, dann wäre ein anderer gekommen. Die Zeit war reif für eine Veränderung. Gilt das nur für die Wirtschaft oder auch für die Gesellschaft? Die Fragen der Demokratie, die Ausreiseerlaubnis, die Dissidenten waren Fragen, die eine kleine Schicht der Bevölkerung betrafen. Wichtiger waren für den größten Teil die Lebensmittel– und Kleiderversorgung, schlicht der Konsum und die Ausbildungsmöglichkeiten der Kinder. Vor allem eine dünne Schicht der Intelligenz empfand es schmerzhaft, daß Beamte ihnen verboten, dies oder jenes zu veröffentlichen. Wie beurteilen Sie die Erfahrungen, die in anderen sozialistischen Ländern gemacht wurden? Ungarn hat vor der Sowjetunion mit Reformplänen begonnen, die ähnliche Züge aufweisen wie die sowjetischen. Jetzt steht Ungarn vor einer Krise. Ich glaube gar nicht, daß Ungarn vor so einer großen Krise steht. Ein wirkliches Problem ist die Staatsschuld. Sie haben zu viele Kredite aufgenommen. Was wäre denn die Alternative gewesen? Das ist die Frage. Wahrscheinlich waren die damaligen Maßnahmen notwendig. Mir geht es gar nicht darum, ein Urteil zu fällen, sondern zu überlegen, was die Ursachen der ökonomischen Schwierigkeiten in Ungarn und auch in Jugoslawien sind. Sonst könnte man zu dem verkehrten Schluß kommen, die Gründe von Jugoslawiens Problemen lägen in der Selbstverwaltung. Sie haben die Bedeutung von zentraler staatlicher Lenkung unterschätzt. Doch trotz eines freien Marktes - ich meine jetzt nicht in den kapitalistischen Ländern - müssen aber unbedingt verschiedene Lenkungsmöglichkeiten erhalten bleiben. Das heißt für uns, daß wir den Betrieben mehr Selbstständigkeit geben und sie sich selbständig leiten müssen, aber besonders in so einem großen Land wie dem unseren müssen auch Möglichkeiten bestehen, von oben die Proportionen im Auge zu behalten. Wie erklären Sie sich die reservierte Haltung in der DDR zu der Reformdiskusssion? Ich weiß gar nicht, ob das Verhalten reserviert ist, obwohl vielleicht Unterschiede in der Einschätzung der Ereignisse vorhanden sind. Aber das ist ja gut so, wir sind es leid, alles zu bestimmen und die anderen sagen dazu immer nur ja. Das hilft niemanden weiter, weil es eine alte Herangehensweise ist. Viel besser ist es, wenn Diskussionen entstehen. Die DDR muß ihre Probleme selbst und eigenständig lösen. Die Kritik an der DDR, gerade auch von der linken Bewegung hier im Westen, war, daß dort „die Macht im Namen des Volkes“ ausgeführt wird, von einer Partei, die „weiß“, wo es für die Arbeiterklasse lang geht, und nicht „durch das Volk“ selbst. Ja, von diesem Begriff habe ich gestern selbst gesprochen. Ich glaube, diese Kritik war manchmal etwas übertrieben, nicht immer sehr kompetent, aber im großen und ganzen enthielt sie doch einen ratio nellen Kern. Selbstkritisch schätzen wir in der Sowjetunion unseren Stand der Demokratie als nicht genügend ein und haben deshalb viele Maßnahmen zur Änderung eingeleitet. Läuft nicht die stärkere Demokratisierung in der UdSSR, die direkte Wahl von politischen Vertretern konsequenterweise auf unabhängige Parteien und Organisationen hinaus? Die Hauptlinie unserer Politik ist die Demokratisierung aller vorhandenen Ebenen. Das heißt: Umbildung und Ausbildung der Kompetenzen und Verhaltensweisen der Sowjets sowie die Demokratisierung in der Partei mit geheimen Wahlen für alle Funktionäre auf allen Ebenen. Das schließt die Demokratisierung des wirtschaftlichen Lebens wie die Wahl der Direktoren, Rektoren und Prorektoren ein. Einige Universitäten haben das schon durchgeführt. Aber mehrere Parteien sind kein praktikabler Vorschlag für unser politisches System. Trotz Demokratisierung wird es dennoch bei einer Partei bleiben. Nun sind Wahlen angesagt, und alle Kandidaten kommen aus der KPdSU. diese hat sich in einer langen Diskussion entschieden, daß zum Beispiel Atomenergie im Moment unabdingbar ist. Da gibt es doch keine wirklichen Alternativen. Das ist ein Problem von politischer Kultur und Gewohnheit. Sie sprechen von Modellen, die bei Ihnen üblich sind, und können sich gar keine anderen Modelle vorstellen. Ihr Beispiel bezeugt nur, daß die Partei kein Recht hat, in dieser Entscheidung Vorentscheidungen zu treffen. Sie muß die Wahlergebnisse abwarten, bevor sie Entscheidungen trifft. Aber das ist doch unrealistisch! Das nur als Prinzip... (grinsend): das ist doch unrealistisch. (Lachen)... Das sind die Widersprüche des Lebens... Bei uns ist das Problem folgendes: Die gewählten Kandidaten müssen lernen, sich den Wählern gegenüber verantwortlich zu fühlen nicht denen „von oben“. Bei den Kanidatenaufstellungen haben wir schon verschiedene positive, aber auch negative Erfahrungen gemacht. Ich könnte manche Anekdote erzählen, aber das Wichtige ist doch, daß wir uns jetzt bewegen und nicht abstrakte Modelle aufstellen: „wie schön wäre es wenn...“ Wie wirkt sich der heutige politische Prozeß auf die Rehabilitierungen der bei den Moskauer Schau–Prozessen Verurteilten aus? Meines Erachtens wurde mit dem Inhalt der Prozesse schon nach dem 20. Parteitag (1956 unter Chrustschow, d. Verf.) aufgeräumt. Es war klar, daß die Moskauer Prozesse gestellte Prozesse waren, die mit der Wahrheit nichts zu tun hatten. Die Urteile wurden deshalb zurückgezogen. Komplizierter war es mit der parteilichen Rehabilitierung, und darum handelt es sich zur Zeit. Man kann die Rolle von Trotzki heute verschieden einschätzen, aber es ist doch eine historische Tatsache, daß Trotzki einer der Führer der Partei war, der maßgeblich an der Oktoberrevolution beteiligt und zudem Oberbefehlshaber der Roten Armee war. Er hat seinen Beitrag in der sowjetischen Geschichte geleistet. Dies gilt, obwohl Stalin die Hauptgedanken der trotzkistischen Politik durchsetzte. Er hat zum Beispiel in der überstürzten Industrialisierung auf Kosten der Bauern oder in der Frage der Gewerkschaften, die nichts als ein Hebel der Parteipolitik sein sollten, Trotzkis Gedanken aufgenommen. Und das beeinflußt natürlich auch meine Haltung gegenüber Trotzki. Dennoch hat dies nichts mit Trotzkis Rolle während der Oktoberrevolution zu tun. Das Vorrangigste ist, die Namen der Geschichte zurückzugeben, denn sonst existiert eine namenlose Geschichte; eine Geschichte ohne die Leute, die die Geschichte gemacht haben. Das Gespräch führte Eva v. Hase–Mihalik

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