Ende des Lagerkriegs im Libanon

■ Nach 28 Monaten bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen der pro–syrischen Schiitenbewegung Amal und den Palästinensern wurde ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet / Der politische Konflikt zwischen Syrien und PLO–Chef Arafat ist nicht beseitigt / Syriens neue Prioritäten im Libanon

Aus Beirut Petra Groll

Die Freude der Bewohner des palästinensischen Flüchtlingslagers Chatila im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut, hat sich ein wenig gelegt, aber nur ein wenig. Zu groß ist die Hoffnung auf ein Ende der Belagerung, als daß sie im Laufe dieses einen Spätsommersonntags begraben werden konnte. Morgens um sieben standen sie an der Straßensperre, Frauen und Männer, die das Lager verlassen, den Wachposten passieren, gemeinsame Stunden mit Familien und Freunden in Westbeirut verbringen wollten. Frauen und Männer, die für ein paar Tage oder Wochen verreisen und Angehörige in anderen Teilen des Landes besuchen und sicher auch einige, die Chatila auf Nimmerwiedersehen den Rücken kehren wollten. Zum ersten Mal seit einem knappen Jahr sollte sich am vergangenen Sonntagmorgen die von syrischen Soldaten bewachte Sperre am „Cinema Charq“, dem einzigen Zugang zum Palästinenserlager, auch für männliche Bewohner und Besucher des Camps öffnen. Morgens um sieben sagten ihnen die Soldaten: vielleicht mittags um zwölf, mittags um zwölf wußten sie, daß es an diesem Tag nichts mehr werden würde und sie wieder ihre Vorfreude auf ein Gerücht gegründet hatten. Anderswo hatte man auf sie gewartet, das gibt der Enttäuschung noch mehr Gewicht. Dennoch bleiben die ca. 3.000 Bewohner von Chatila an diesem Abend optimistisch und träumen weiter von einem Ausflug. Der längste Krieg im Libanon Der Grund für diesen Optimismus: letzte Woche wurde in der südlibanesischen Hafenstadt Saida ein Abkommen unterschrieben, mit dem der seit Mai 1985 dauernde Lagerkrieg beendet werden soll. Als am 20. Mai jenes Jahres Gefechte um das Palästinenserlager Chatila ausbrachen, da glaubte man allenthalben an einen vereinzelten Zwischenfall, an eines von vielen kleinen Scharmützeln, die damals auf der Tagesordnung standen. Doch aus dem vereinzelten Gefecht wurde die längste Kriegsrunde im Libanon, die in 28 Monaten mehr als 2.000 Tote und viele tausend Verletzte forderte, vom ungeklärten Schicksal einiger Tausend „Verschwundener“ ganz zu schweigen. Die Westbeiruter Palästinenserlager Daouk und Sabra wurden schon 1985 dem Erdboden gleichgemacht und nie wieder aufgebaut, die letzte, längste und härteste Runde im Lagerkrieg, die von September 1986 bis April 1987 um die Beiruter Lager und die Camps nahe der südlichen Hafenstadt Sour (Tyros) wütete, hinterließ das Lager Rashediyeh nahe der israelischen Grenze zu 40 Prozent zerstört, das Beiruter Lager Bourj–El–Brajneh zu mehr als 50 Prozent und Chatila, das kleinste aller umkämpften Lager zu 95 Prozent zerstört. Die zumeist von libanesischen Schiiten bewohnten Randgebiete der Beiruter Lager wurden während der Kämpfe entvölkert, die Wohnhäuser zu Frontstellungen, auch hier hinterließ der Krieg tiefe Spuren der Zerstörung. Die pro–syrische Schiitenbewegung Amal, seit Februar 1984 militärische Alleinherrscherin im moslemischen Westbeirut, hatte zum Kampf gegen die Palästinenserlager gerufen. Amal unterstellte PLO–Chef Yassir Arafat, sich im Libanon wieder mit militärischer Stärke einrichten zu wollen, so, wie vor der israelischen Invasion, die 1982 zur Evakuierung von mehr als zehntausend palästinensischen Kämpfern und der gesamten PLO–Führung aus Beirut geführt hatte. Amal mobilisierte gegen „die Vorherrschaft der PLO“, gegen die angeblichen Pläne der Palästinenser, im Südlibanon, dem verarmten und vom jahrzehntelangen Krieg gegen Israel zerstörten Stammgebiet der libanesischen Schiiten, einen eigenen palästinensischen Kanton zu errichten. Amal, die 1974 vom Imam Musa Sadr (mit finanzieller und militärischer Unterstützung seitens Yassir Arafats) gegründete „Bewegung der Unterdrückten“, ließ sich von Syriens Präsident Hafezal Assad aufrüsten und wurde zum militärischen Instrument des syrischen Regimes im Libanon. Die syrischen Hintermänner Das syrische Alawiten–Regime, dessen Herrscherideologie nach wie vor den Traum vom Groß–Syrischen Reich verbreitet (das neben dem heutigen Syrien Teile der Türkei, Zyperns, Libanon und Palästinas umfaßt), betrachtet sich auch als wahre Vertreterin des palästinensischen Volkes. Präsident Assad versucht seit seiner Machtübernahme die palästinensische Karte als Trumpf im Nahost–Konflikt in seine Hände zu bekommen und so seine Ambitionen, Syrien zur Regionalmacht aufzubauen, zu unterstützen. Dem steht eine starke und eigenständige Führung wie die Mannschaft Yassir Arafats im Wege. Die Wege des syrischen Regimes, sich der Führung Arafats zu entledigen, sind vielfältig. Sie reichen von materieller und politischer Unterstützung der innerpalästinensischen Opposition über die Ausweisung Arafats und seines Stellvertreters Abu Jihad aus Damaskus bis zum mehr oder minder direkten Kampf gegen den PLO–Chef und seine Partei Al Fatah. Arafat sorgte im Gegenzug für Unruhe in Syrien. Seine Unterstützung der syrischen Moslem– Brüder ist eines der wenigen bekannten Beispiele, sollte es andere Fälle geben, sind sie in der sprichwörtlichen Friedhofsruhe untergegangen, die das syrische Regime im eigenen Lande geschaffen hat. Eine lange Waffenruhe Konnte bis zum Mai 1987 der arabischen und internationalen Öffentlichkeit noch weisgemacht werden, der Lagerkrieg gelte der „verräterischen Linie Arafats“, so war dies nach der Wiedervereinigung der PLO unter seiner Führung nicht mehr ohne weiteres möglich. Bereits im Vorfeld jener Tagung des palästinensischen Nationalrats im Mai 87 in Algier war es schließlich zu einer Waffenruhe im Lagerkrieg gekommen. Syrien, das im Februar des Jahres zur Beendigung der blutigen Milizenherrschaft in die libanesische Hauptstadt einmarschiert war, und mittlerweile weit mehr als die Hälfte des libanesischen Territoriums mit einer ca. 35.000 Mann starken Truppe kontrolliert, sah sich angesichts des arabischen und internationalen Drucks gezwungen, für ein Ende des Lagerkrieges zu sorgen. Mit der Stationierung syrischer Soldaten rund um Bourj–El–Brajneh und Chatila am Rande Westbeiruts kehrte Ruhe an den Fronten ein. Die mehr als zweijährige Blockade der Camps aber hielt an, nur Frauen wurde das Verlassen und Betreten der Camps genehmigt. Sie mußten die Versorgung der Bewohner übernehmen. Weder Studenten und Schüler, noch Männer, die außerhalb der Lager ihrem Broterwerb nachgehen wollten, erhielten eine Erlaubnis, die von syrischen Soldaten kontrollierten Checkpoints zu passieren. Die Camps durften weder mit Baumaterial versorgt noch die im Krieg zerstörten Elektrizitäts– und Wasserinstallationen repariert werden. Die Camps blieben das Pfand, die Bewohner die Geiseln in den Händen der weiterhin um die Lager postierten Amal– Milizen und deren syrische Hintermänner. Das Abkommen von Saida In der vergangenen Woche schließlich wurde in Saida, der einzigen libanesischen Stadt, in der sich aufgrund lokaler Machtkonstellationen die verantwort lichen Repräsentanten von Arafats Al Fatah offen bewegen können, ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Das Abkommen sieht den Abzug palästinensischer Kämpfer aus einigen militärstrategisch hervorragenden Positionen in der Nähe von Saida vor. Im Gegenzug soll die Blockade der Palästinenserlager im Südlibanon und in Westbeirut aufgehoben werden. Von den Palästinensern wird nicht mehr, wie beim Ausbruch des Lagerkrieges, verlangt, daß sie all ihre Waffen abgeben. Die bewaffneten Einheiten der PLO sollen lediglich unter das offizielle Kommando der „Front zur Vereinigung und Befreiung“ (FUL), einem neuen Bündnis libanesischer Oppositionsparteien, unterstellt werden. Die in diesem Bündnis vereinigten Organisationen wiederum sollen die Verant wortung für die Sicherheit der Palästinenserlager übernehmen. Amal, die sich noch vor kurzem geweigert hatte, die als „Arafatisten“ denunzierten Lokalchefs der PLO als Gesprächspartner anzuerkennen, gab sich mit diesem Abkommen zufrieden, obwohl das ehemals wichtigste Ziel, die völlige Entwaffnung der Palästinenser, nicht erreicht ist. Und mehr noch: nach mehr als zwei Jahren blutigen Krieges, der auf beiden Seiten hohe Verluste forderte, war es Amal–Chef Nabih Berri, der anläßlich einer Massenveranstaltung der Schiitenbewegung im ostlibanesischen Baalbek am 30. August das Signal zum Einlenken gab. Der Rest war eine Angelegenheit von wenigen Tagen. Bis zum 5. Oktober sollen die im Abkommen von Saida vereinbarten Schritte bereits vollzogen sein. Neue politische Absichten Syriens Ohne grünes Licht aus Syrien wäre dieses Abkommen nicht zustande gekommen. Gut unterrichtete Kreise in der libanesischen Hauptstadt wissen zu berichten, daß es gar in Damaskus ausgehandelt wurde. Ohne dieses Abkommen, das die palästinensische Präsenz im Libanon zumindest auf pragmatischer Ebene und vorläufig regelt, hätte das Damaszener Regime ein anderes und offenbar dringliches Ansinnen nicht verwirklichen können: die Vereini gung der an der Palästinenserfrage zerstrittenen libanesischen Oppositionsparteien zur „Front für Vereinigung und Befreiung“. Die im Frühsommer dieses Jahres offiziell gegründete FUL umfaßt fast das gesamte Spektrum der libanesischen Oppositionsparteien. Das Hauptziel der FUL ist, die Herrschaft der pro–israelischen, christlich–maronitischen Phalange in Libanon zu beenden und das Land in eine „arabische“ Zukunft, in engster Abhängigkeit zum syrischen Nachbarn zu führen. Das politische Programm der FUL sieht in allen wichtigen Bereichen, vom Militär über die Wirtschaft bis hin zur Kultur, „besondere Beziehungen“ zu Syrien vor. Die libanesischen Maroniten, die fast die gesamte Großbourgeoisie des Landes stellen, sich auf Phoenizier und Kreuzritter berufen und von den Franzosen zu Ende der Kolonialzeit zu den Herrschern über Libanon gemacht wurden, fürchten indes um ihre Zukunft im Lande, um ihre westliche Orientierung und haben sich seit Jahren schon mit Israel verbündet. Für die libanesischen Präsidentschaftswahlen im September kommenden Jahres haben sie denn auch jetzt schon einen Kandidaten aufgestellt, der für seine ausgezeichneten Beziehungen zu Israel und seine strikte Feindschaft zum syrischen Regime berüchtigt ist. Für die Bildung einer starken, einheitlichen Opposition gegen die Maroniten und deren israelische, US–amerikanische und westeuropäische Verbündete bleibt also nur ein Jahr Zeit. Die beiden stärksten Parteien der FUL, die Schiitenbewegung Amal und die drusische Progressive Sozialistische Partei (PSP) waren bis zum vergangenen Freitag aber allein an der Palästinenserfrage so weit zerstritten, daß es Anfang Februar dieses Jahres des syrischen Einmarsches nach Westbeirut bedurfte, um den an dieser Problematik entflammten Bürgerkrieg in den Straßen der Hauptstadt zu beenden. Doch noch ein weiterer Konflikt auf der libanesischen Politbühne macht den Frieden im „Lagerkrieg“ opportun: die täglich schärfer wer dende Konfrontation zwischen der pro–syrischen Amal und der pro–iranischen Schiitenpartei Hizballah, der Partei Gottes. Bereits 1982 spaltete sich der erste pro–iranische Flügel, die Baalbeker Amal–Islamiyeh, von der Hauptbewegung Amal ab. Sowohl in den südlichen Vororten Westbeiruts als auch im Südlibanon aber konnte Hizballah in den vergangenen Jahren und speziell seit dem Ausbruch der letzten Runde des Lagerkrieges im Herbst 86, erheblichen Zulauf verbuchen. Hizballah droht Amal den vordersten Rang in Libanons Schiiten–Gemeinde abzulaufen, und damit auch die politischen Einflußmöglichkeiten des syrischen Regimes einzuschränken. Nur einen Tag nach der Rede von Baalbek, in der Nabih Berri den Palästinensern Frieden signalisierte, begann die Kampagne gegen Hizballah. Berri tourte in der folgenden Woche durch den Südlibanon, wo er bei Massenveranstaltungen in Sour und Nabatiyeh propagandistische Front gegen die „fanatischen Turbane“, den schiitischen Klerus machte, der weitgehend auf Teheraner Linie ist und für die Einrichtung einer „Islamischen Republik“ Libanon plädiert. Neue Fronten Auch die Palästinenser in den belagerten Camps wissen, daß sie den lang ersehnten Frieden im Lagerkrieg der Gunst der „großen“ Politik zu verdanken haben. Vorläufig ist ihnen jedoch die Pause im Lagerkrieg wichtiger als die politische Zukunft Libanons: „Zuerst müssen wir für unsere eigene Zukunft kämpfen“, erklärte eine der politisch Verantwortlichen von Chatila am Sonntagabend. „Wir haben unsere Lager verteidigen können, aber wir haben hohe Verluste gehabt. Unsere Kinder konnten seit zwei Jahren nicht in die Schule oder Universität, unsere Männer konnten das Camp seit mehr als zwei Jahren nicht verlassen und leben hier wie in einem Gefängnis. In jeder Familie gibt es Märtyrer und vom Krieg verstümmelte Opfer. Wir haben die Monate der Belagerung überstanden, Politik gegessen, Politik getrunken, Politik geatmet. Wir wissen, daß mit dem Abkommen von Saida die politische Ursache des Lagerkrieges der Konflikt zwischen Assad und Arafat, d. Red. nicht aus der Welt ist. Es wird neue Schwierigkeiten geben, neue Kämpfe. Wir können uns aus den politischen Veränderungen im Libanon nicht raushalten, wir versuchen gute Beziehungen zu allen Parteien Libanons zu halten, aber wer weiß, ob wir nicht schon bald gezwungen sind, mit Amal und den Syrern gegen Hizballah zu kämpfen?“ An der letzten Ecke vor dem Ausgang Chatilas hängt ein überlebensgroßes Portrait von Ali Abu Toq, dem jungen Militärchef von Chatila, der im Januar dieses Jahres an der Front gefallen ist. Ali Abu Toq ist der erste Mann Arafats, der sich wieder offen in Westbeirut zeigen kann.