Strahlenschützer: Zwanghaft optimistisch

■ Gegen den Strich gelesen und interpretiert: Bericht der Strahlenschutzkommission zu den „Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl auf die Bundesrepublik Deutschland“

„Selbst in den höher belasteten Gebieten“ ist das Risiko, in den nächsten 50 Jahren an Leukämie oder Krebs zu sterben, durch die erhöhte radioaktive Strahlung nach Tschernobyl nur um „Bruchteile von Promillen“ gewachsen. So resümiert die Strahlenschutzkommission (SSK) die „Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl auf die Bundesrepublik Deutschland“. In der vergangenen Woche legte sie dazu einen 230 Seiten starken Hochglanz–Bericht vor. Etwa ein Fünftel der Bundesdeutschen wird laut Kommission sowieso an Krebserkrankungen sterben. Verglichen damit sei „das durch den Reaktorunfall bedingte Risiko - wenn überhaupt vorhanden - sehr klein“. Wie herrlich läßt sich doch durch Abstraktion vernebeln! Den Schaden zu beziffern, die Zahl der zusätzlichen Krebstoten zu benennen, mit denen wir rechnen müssen - das scheut die Kommission wie der Teufel das Weihwasser. Der Leser des Berichts muß selber rechnen und erlebt prompt eine Überraschung: in absoluten Zahlen gemessen unterscheiden sich die Ergebnisse der obersten Strahlenschützer nämlich kaum von denen der Wissenschaftler des IFEU. Ausgehend von den Meßwerten in Becquerel, mit denen die Strahlenbelastung der Umwelt angegeben wird, berechnen sie Strahlendosen für die Bevölkerung (in Millirem), die mit den Auswertungen des IFEU fast identisch sind. Und selbst bei den Annahmen, welche Gesundheitsrisiken aus diesen Dosis–Werten resul tieren, hat sich die Kommission den kritischen Wissenschaftlern angenähert: entgegen ihrer bisherigen Praxis berücksichtigt sie auch weniger optimistische Schätzungen als die der Internationalen Strahlenschutzkommission(IRCP). Bemerkenswert ist allerdings, wie unterschiedlich sich derselbe Sachverhalt formulieren, gewichten und interpretieren läßt. Beim SSK–Bericht verschwinden die Krebstoten, wie gesagt, im Nebel statistischer Relativierung. Stattdessen lassen die Verfasser unter dem Gewand scheinbar objektiver Wissenschaftlichkeit kaum eine Möglichkeit aus, ihre Politik der Empfehlungen nach der Reaktorkatastrophe in ein besseres Licht zu rücken. Gleich im Vorwort ist zu lesen: Die Kommission habe direkt nach Tschernobyl „entgegen der oft geäußerten Kritik“ die Strahlenbelastung der Bevölkerung nicht zu niedrig sondern sogar zu hoch abgeschätzt. Was heißen soll: Die SSK ist übervorsichtig gewesen - weswegen sie sich auch prompt einen „Vertrauenszuwachs in der Bevölkerung“ erhofft. Weil die Schäden ohnehin nicht so hoch sind, scheinen im nachhinein auch die wenigen - und dann sehr hohen - Richtwerte plausibel, mit denen die Kommission damals vor dem Verzehr allzu verstrahlter Lebensmittel warnte. Eine Graphik soll zeigen, daß der Konsument in den ersten Tagen nach Tschernobyl neunmal mehr Radioaktivität auf dem Nahrungsweg aufgenommen hätte, wenn nicht der SSK–Richtwert für Blattgemüse gewesen wäre. Was der Bericht verschweigt: Wer wie das IFEU berücksichtigt, daß viele Bürger damals weitgehend auf Spinat und Kopfsalat verzichteten, kommt zum gleichen Ergebnis. Auffällig ist ferner, wie wenig die Kommission Worte zur Bodenstrahlung verliert. Sie kommt hier zwar wiederum zu ähnlichen Zahlen wie das IFEU, schweigt sich über deren langfristige Bedeutung für Spätschäden jedoch aus. Wollen die Strahlenschützer möglicherweise von der Tatsache ablenken, daß hier eine wichtige Quelle radioaktiver Belastung nach einem GAU nicht, wie es bei Nahrungsmitteln der Fall ist, mittels Grenzwerten verwaltet werden kann? Der Bericht dokumentiert noch einmal sämtliche Empfehlungen, welche die SSK nach der Reaktorkatastrophe ausgegeben hat. Garniert mit Graphiken und Tabellen, in den AUTOR_________: raw Strahlenschutzkommission: Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl auf die Bundesrepublik Deutschland. Gustav–Fischer–Verlag 1987