Tibet - Die rebellische Provinz

Lhasa (wps) -Die derzeit in der tibetanischen Hauptstadt stattfindenden Unruhen sind die größte Herausforderung Pekings seit dem Volksaufstand von 1959, in dem 87.000 Tibetaner zu Tode kamen und der Dalai Lama ins Exil nach Indien fliehen mußte. Wiewohl der Zeitpunkt der jetzigen Proteste überraschend kommt, waren die zwei Millionen Tibetaner, die über ein Gebiet von der Größe Westeuropas verstreut leben, schon immer die rebellischte der 56 Minderheiten im Staatsgebiet der VR China. Der anhaltende Widerstand gegen die chinesische Besatzung basiert zum einen auf der tiefen Religiosität des Nomaden– und Bauernvolkes, zum anderen auf der Politik der Han–Chinesen in Tibet. Das karge aber strategisch bedeutsame Land an der Grenze zu China litt mehr als irgendeine andere Provinz unter der erzwungenen Kollektivierung der Landwirtschaft in den 60er Jahren. Der von oben verordnete Übergang vom Gerste zu Winterweizen führte zu Hungersnöten, auf die wiederum Rebellionen und neue Repressionswellen folgten. Aus chinesischer Sicht dagegen ist Tibet ein „Faß ohne Boden“: Obschon seit 1952 drei Milliarden Dollar Aufbauhilfe von Peking nach Lhasa geflossen sind, hat China mit 110 Dollar pro Jahr immer noch das niedrigste Pro–Kopf– Einkommen in ganz China. Nirgendwo ist die Analphabetenrate höher (70 Trotz weitgehender Zerstörung der Klöster scheint die Ergebenheit gegenüber den buddhistischen Priestern ungebrochen. Vor dem wiederaufgebauten Jokhang– Tempel im Zentrum Lhasas werfen sich Tausende von ärmlich gekleideten Pilgern in den Staub. Ende der 70er Jahre gab die KP– Führung erstmals zu, daß sie in Tibet erhebliche Fehler begangen hätte. Trotzdem ist die tibetanische Verwaltung bis heute eine Hochburg der sogenannten „Linken“ oder „Konservativen“, d.h. der Mao–Anhänger alten Stils. Die meisten Kader in Lhasa sitzen hier schon seit der Kulturrevolution, und Provinzgouverneur Doje Cering hat schon mehrfach ihre „unkooperative Haltung“ bezüglich der von Peking verordneten Reformen und Lockerungen beklagt. Seit 1980 nämlich dürfen Tibets Bauern wieder wirtschaften, wie es ihnen gefällt. Pachtverträge werden wieder für die Dauer von 30 oder 50 Jahren abgeschlossen, alle Steuern sind aufgehoben. 1984 wurden gar 250 Mio. Dollar für 43 neue Infrastrukturprojekte bewilligt, darunter Hotels, Schulen und Museen. Tibet wurde für den Tourismus zugänglich gemacht in der Hoffnung, binnen zehn Jahren würde das Land 100.000 ausländische Besucher jährlich anziehen. In Spezialschulen wird eine neue tibetanische Führungsschicht herangezogen. Die neue Politik der offenen Grenzen zeigte auch bald Wirkung, nur völlig anders als beabsichtigt. Scharen von Tibetanern aus Indien und Nepal kommen jetzt jedes Jahr in ihre Heimat, um Verwandte zu besuchen und - wie die Autoritäten in Peking argwöhnen - subversives Material ins Land zu schmuggeln. Folgerichtig macht Peking denn auch den Dalai Lama für die gegenwärtigen Proteste verantwortlich. Ein jüngst in Lhasa aufgetauchtes Flugblatt wiederum wirft Peking vor, es wolle Tibet unter dem Vorwand der Hilfe seine Kultur aufzwingen: „Die Chinesen sagen, Tibetaner sind zu dumm, um in Führungspositionen zu bestehen. Deshalb bekommen sie immer die schlechtesten und gefährlichsten Arbeiten. In den Krankenhäusern erhalten wir nur eine drittklassige Behandlung. China sagt, sie schicken unsere Kinder auf chinesische Schulen. Das ist Heuchelei, denn dort lernen sie nichts über ihre Kultur und Sprache. Es ist nur eine andere Art, Tibet zu zerstören.“ Es ist eine Ironie des Schicksals , daß gerade diese Flugblätter bei dem in drei Wochen beginnenden Volkskongreß die liberalere Politik der letzten Jahre unter Beschuß bringen werden, die Konsequenzen für die Reformer sind noch nicht abzusehen. Die Mönche, die die jüngsten Demonstrationen anführten, setzen hier offenbar großes Vertrauen in die Macht der UNO und unabhängiger Menschenrechtsorganisationen. Und alle Priester glauben, daß der Dalai Lama vor der Generalversammlung der UN gesprochen habe, anstatt vor einem Komitee des US–Kongresses. Für einige Mitglieder der tibetanischen Jugendorganisation dagegen ist dieser Zug längst abgefahren. Für sie steht die Gründung einer neuen separatistischen Bewegung nach dem Vorbild der spanischen ETA, der Tamilen in Sri Lanka oder der Sikhs in Indien auf der Tagesordnung. Jasper Becker