I N T E R V I E W „Und das war nur ein alter Röntgen–Apparat“

■ Interview mit dem brasilianischen Filmemacher, Autor und Sozialwissenschaftler Frederico Füllgraf zum Strahlenunfall in Goiania

taz: Wo warst Du zum Zeitpunkt des Unglücks? Frederico Füllgraf: Ich war auf der ersten weltweiten Konferenz über die Opfer der Radioaktivität in New York, als ich davon erfuhr. Ich konnte mir zunächst überhaupt keine Vorstellung machen von der Dimension des Unglücks. Ich bin sehr erschrocken. Der Unfall bestätigt, was wir all die Jahre gesagt haben: Es gibt für die Bevölkerung von staatlicher Seite und von der Atomindustrie keine Sicherheit, es gibt keine Infrastruktur und vor allem gibt es keine informierte Öffentlichkeit. Man muß sich vorstellen, sowas passiert mit einem ausrangierten Röntgen–Apparat. Was passiert denn erst, wenn das Atomkraftwerk in Angra Dos Reis in vollem Betrieb ist. 24O Menschen sollen von dem Unfall betroffen sein, vermutlich zehn der Opfer sind nicht mehr zu retten... Nach meinen Informationen sind zwölf Menschen in akuter Lebensgefahr. Ihnen sind schon die Haare ausgefallen, sie zeigen die typischen Symptome der akuten Strahlenkrankheit, wie wir sie von Hiroshima kennen. Es wird vermutlich nicht bei den 240 Betroffenen bleiben. Wenn tatsächlich 100 Gramm Cäsium freigeworden sind, dann entspricht das in der Größenordnung der Menge von Tschernobyl. Von daher sind Auswirkungen zu erwarten, die wir jetzt überhaupt noch nicht abschätzen können. Wir müssen eigentlich genau so argumentieren und uns genau so fühlen wie nach Tschernobyl. Wie weit ist die brasilianische Bevölkerung aufgeklärt über Gefahren und Risiken der Radioaktivität? Gab es z.B. eine öffentliche Debatte über das Atomprogramm? Nein, nein, nein! Die Bevölkerung ist überhaupt nicht aufgeklärt. Es gibt ja keine Tradition und keine Erfahrung im Umgang mit Technik. Und je weiter Sie hinuntergehen an der Gesellschaftspyramide, umso schlimmer wird das. Als die Verträge mit den USA zum Bau des Atomkraftwerks Angra I geschlossen wurden und später beim deutsch–brasilianischen Atomgeschäft, gab es eine Welle der Kritik wegen der Nicht–Eignung der Standorte, die mangelnde Sicherheit usw. Vor zwei Jahren gab es dann eine Kampagne zur Offenlegung der Evakuierungspläne für Angra Dos Reis. Das hat ein Jahr gedauert, bis der AKW–Betreiber das selektiv offengelegt hat. Außer einer Grafik der Zusammenarbeit eines Behördengeflechts für den Fall eines Unfalls stand da nichts drin. De facto ist trotz der Aufklärung einzelner Wissenschaftler die Bevölkerung nicht informiert. Und je weiter sie von den Atomkraftwerk–Standorten entfernt lebt, desto weniger weiß sie über die Radioaktivität. Nochmal zur Situation in Goiania. Ist die brasilianische Medizin in der Lage, den vielen Betroffenen zu helfen? Die hohe Zahl an ausländischen Experten ist ein Hinweis darauf, daß man trotz der Atomtechnik im Lande, trotz des Atomgeschäftes, das mit der Bundesrepublik läuft oder besser gesagt stolpert, keine Spezialisten in ausreichender Zahl im Lande hat. Es gibt zwar einige radiologisch–medizinische Abteilungen, aber das ist zuwenig. Ich will mal ein Beispiel nennen: Ich war beteiligt an den Diskussionen über die Erhöhung der Grenzwerte für EG–Milchpulver. Der Grenzwert wurde von 170 Becquerel auf 3.700 über Nacht erhöht. Nach massivem Druck von Wissenschaftlern und Verbraucher–Organisationen wurde er dann wieder auf 370 gesenkt. Das ist ein Beispiel für die allgemeine Hirnlosigkeit. Es soll wegen des Unfalls auch zu Demonstrationen gegen das brasilianische Atomprogramm gekommen sein. Richtig! Zum ersten hat es vergangene Woche eine religiöse Prozession gegeben an der Amazonas–Mündung. Die Demonstration soll umgeschlagen sein in eine absolute Anti–Atom–Demonstration. Da sollen sich 100.000 beteiligt haben. Hintergrund der Demonstration war die Anweisung von Präsident Sarney, das Cäsium in den Atomtest–Löchern von Cachimbo am Amazonas zu vergraben. Die andere Demonstration war am Mittwoch in Sorocaba, dem Standort des militärischen Atomforschungsprogramms der Marine. Dort wird an den Anlagen für die Urananreicherung und den U–Boot–Atomantrieb gebaut. Das ist ein Riesenkomplex, an dem übrigens auch das westdeutsche Ingenieur– Kontor Lübeck beteiligt ist. Die sitzen seit eineinhalb Jahren am Projekt des ersten atomgetrieben U–Bootes. Der Unfall von Goiania hat in Brasilien die gesamte Atom– Debatte wieder aktualisiert. Interview: Manfred Kriener