Boykott? Bankrott!

■ Die Schwulenbewegung darf sich nicht aus Angst vor Diskriminierung zurückziehen

Die bitterste Erfahrung der letzten AIDS–Jahre: Zur tödlichen Immunschwäche gesellt sich bei dem „politisch bewegten“ Teil der Schwulen eine vorbeugende Selbstkastrierung. Haben die meisten längst die Flucht ins entpolitisierte, moralisch unverdächtige Totenpflegerdasein per AIDS–Caritas angetreten, hält der noch nicht chloroformierte Teil entweder still oder sucht den Trampelpfad des geringsten Widerstands. Das heißt in diesem Fall: Wer Gauweiler und Co. nicht treffen kann, drischt auf den schwulen (bewegten) Dannecker ein. Selbstverständlich ist es legitim und erfreulich, wenn eine Studie wie die von Dannecker kritisch begutachtet wird, selbstverständlich ist es akzeptabel oder honorig, wenn jemand sich nicht beteiligen will und auch andere zur Vorsicht mahnt. Wird aber gleich mit der schärfsten Waffe, mit einem Boykott gearbeitet, dann müssen die Argumente verdammt stichhaltig sein. Besonders ärgerlich bei den Boykottbegründungen ist deren Hülsenhaftigkeit, ihr Herumfuchteln mit Reizworten, die eher ein Aroma denn Argumente produzieren. Da reicht dem „Bundesverband“ die Tatsache, daß die Forschungsgelder aus Bonn kommen. Keine Forschung jedoch wird bei uns privat finanziert, auch AIDS–Hilfen und Schwulenprojekte werden vom kalten Bruder Staat ausgehalten. Es ist jedoch etwas billig, die schlichte Tatsache der Förderung als Boykottgrund anzugeben. Wenn schon, dann muß man auch sagen und belegen können, daß und wie das Ministerium Einfluß nimmt. Die möglichen Ergebnisse der Studie könnten, so heißt es, eine erneute Repression auf alle Homosexuellen niederprasseln lassen. Dies gilt es durchaus zu bedenken. Aber ist nicht jede Form von (Sozial–)Wissenschaft interpretierbar, und lehren uns nicht gerade die letzten Jahre, daß gauweilerseits eben nicht mit Argumenten und Wissenschaft, sondern mit dumpfen Emotionen (das „unschuldige“ AIDS– Baby) gearbeitet wird? Gerade hier kann ein wissenschaftlicher Blick auf die Realität doch nur nützen. Wenn aber schon ein Kreuzzug gegen Daten, die mißbraucht werden könnten, dann bitte auch konsequent. Sind die Vorbehalte wirklich ernst gemeint, müßten sie sich zwangsläufig auf die Veröffentlichung all dessen ausdehnen, was die Lebens– und Liebessituation der Schwulen „preisgibt“. Also keine Bücher, keine Filme, keine Theaterstücke und keine Interviews mehr. Es war eine der Haupterrungenschaften der 70er, sich nicht aus Angst vor möglicher Diskriminierung länger zu verleugnen. Auf allen Ebenen hat man die eigene Befindlichkeit, die eigenen Sichtweisen diskutiert, gerade auch dann, wenn manches für die Schwulen nicht schmeichelhaft war. Dies war die offensive Haltung einer erwachsen werdenden Bewegung: Man stellte die eigenen Fragen und setzte eigene Inhalte. Der Boykottaufruf aber, diese Selbstzensur aus Angst, geht weit dahinter zurück. Man läßt sich wieder auf Fragen ein, die andere stellen. Der politisch motivierte Boykottaufruf folgt spiegelverkehrt brav dem Gegner, ist letztendlich eine Identifikation mit der Repression. Schwulenpolitisch ist der Boykottaufruf eine Bankrotterklärung. Matthias Frings