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Autistische Grüne im Norden

■ Vor einem entscheidenden Parteitag in Schleswig–Holstein / Den Totstellreflex beherrschen die Grünen am besten / Zur Barschel–Affaire ist ihnen bis heute nichts eingefallen / Analytische Kritik nur vom Kassierer / Die Realos wollen Boden gut machen

Aus Kiel Jörg Feldner

Verbessert ein klares Koalitionsangebot der Grünen an die SPD die Aussichten, die Fünf–Prozent– Hürde zu überspringen? Oder gibt es zwischen dem letzten 3,9–Prozent–Flop und den Spielarten rotgrüner Zusammenarbeit gar keine kausale Beziehung? Verschwimmt das eigene politische Profil der Grünen in Schleswig– Holstein, wenn sie sich einer anderen Partei annähern? Oder verkümmern sie zur bedeutungslosen Sekte, wenn sie auch im dritten Anlauf nicht den Sprung ins Landesparlament schaffen? Das sind die Fragen, mit denen sich die immerhin noch 60.000 Stimmen starke Anhängerschaft der Grünen in Schleswig–Holstein, die am kommenden Wochenende zu einem Parteitag - die offizielle Bezeichnung lautet Landesdelegiertenkonferenz - zusammentreten, beschäftigt. Überhaupt keine Rolle in der politischen Praxis der Grünen spielt die seit acht Wochen brodelnde Kieler Affäre. Obwohl sie als einzige Partei mit keinem Fuß in der Scheiße stecken, ist ihnen zu Barschel und Pfeiffer nicht mehr eingefallen als der juristisch dilletantische Wunsch, als Außerparlamentarier im parlamentarischen Untersuchungsausschuß mitmischen zu dürfen. Bewertungen zum Skandal werden nur auf Anforderung vorgenommen. Innerparteilich ließ sich niemand finden, der Lust hatte, in die Recherche einzusteigen. Auch zum Parteitag liegt kein Konzept auf dem Tisch, was die Grünen mit der Affäre anfangen könnten. Auch in den Rechenschaftsberichten des Vorstandes und der hauptamtlichen Mitarbeiter stellt man sich diese Frage nur sehr am Rande. Dagegen wollen einige Antragsteller des Realo–Flügels mit einem klaren Koalitionsangebot an die Sozialdemokraten in den Wahlkampf ziehen. Der Einblick in die Strömungsverhältnisse wird dadurch erschwert, daß sich alle Flügel und Einzelmenschen mit Händen und Füßen dagegen wehren, einem „Lager“ zugerechnet zu werden. Die brauchbarste Trennlinie läßt sich dem Rechenschaftsbericht des Finanzverwalters Gerrit Schulz herauslesen. Ohne die für verantwortungsscheue Politiker typische ideologische Bifokalbrille sucht Schulz nach Erklärungen für einige trübe Entwicklungen: 294.000 Mark Miese haben die Grünen allein im Landtagswahlkampf gemacht. Die gesamte Vermögenslage des Landesverbandes hat sich in wenigen Monaten um mehr als eine drittel Million verschlechtert. Diese Pleite sieht der Kassenwart als „Ausdruck der Bewußtseinslage grüner Funktionsträger“, die vor allem darin bestehe, „die Wirklichkeit nicht so zur Kenntnis nehmen zu wollen, wie sie ist“. Verglichen mit der Kassenanalyse bleiben die länglichen Berichte der übrigen Vorstandsmitglieder auf dem Niveau von Mei nungsäußerungen. Eine „zu starke Akzentuierung von rot– grün im Wahlkampf“ sieht Vorstandssprecherin Brigitte Arend. Die Realo–Hoffnung Gabriele Hanowski–Zahel weiß „mit Sicherheit, daß ich gegen Fernseh– und RSH–Spots war“ (RSH ist der private Dudelfunk in Schleswig–Holstein). Die alleinerziehende Mutter Andrea Frauen beschreibt ihre unlösbare Überforderung in einem Landesvorstand, der die Nacht zum Tage macht. Realo Martin Hentschel räumt ei, daß die Wahl nicht erst im Wahlkampf verloren wurde. Seit Jahren klagt die Partei über stagnierende Mitgliedszahlen und schwache Beteiligung an den Landesarbeitsgemeinschaften. Das Interesse für die Landespolitik ist dünn, KandidatInnen für den Landesvorstand konnten oft nur mit Mühe gefunden werden, monatelang blieben Vorstandsstühle leer. „Zwischen den Erfolgen auf der kommunalen Ebene und dem Engagement auf Landesebene klafft ein rätselhaftes Riesenloch, dessen Ursache wir noch nicht kennen“, meint der Geschäftsführer der grünen Ratsfraktion in Kiel, Nico Sönnichsen. Die Suche nach den Gründen sei eine spannende Aufgabe für den Parteitag. Eine Abstimmungsschlacht über Koalition oder nicht wäre zu wenig als Wahlkampfvorbereitung. Mit einem zeitweise behaupteten Rachefeldzug der bisher kurz gehaltenen Realos wird nicht mehr gerechnet. Chancen werden einer Kompromißlinie eingeräumt, die eine Koalition für möglich hält, ohne sie allzu deutlich zu wollen. Ob das den Menschen in Schleswig–Holstein, die nichts sehnlicher wünschen als ein Ende des CDU–Zeitalters, nicht wieder zu verwinkelt vorkommt, hätten die Grünen nach der Wahlniederlage vom 13. September bei ihrer Wählerschaft erfragen können. Statt diese Debatte mit der Außenwelt zu suchen, verharrt die Partei seit zwei Monaten in absoluter Tatenlosigkeit.

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