I N T E R V I E W Vom Spitzensport zum Zirkus

■ Der Präsident des Deutschen Sportärztebundes Wildor Hollmann blickt ins Jahr 2000

taz: Der Spitzensportler des Jahres 2000 wird von morgens bis abends trainieren, unterbrochen von dreimaliger Eiweiß– und Elektrolyt–Applikation, er wird 23 Pillen und 17 Pülverchen schlucken, wie eine Litfaßsäule aussehen und mit 25 ein ausgemergelter Invalide sein. Professor Hollmann: Mit dieser Sorge, wenn auch nicht mit diesen Formulierungen stimmen wir überein. Das ist genau unsere Befürchtung. Ich bin davon überzeugt, daß sich weite Teile des Spitzensports aufsplittern werden in einzelne Zirkusgruppen, in denen sich die jeweiligen Spitzenleute dieser Sportart zusammenfinden, wie es heute zum Beispiel schon im Hochsprung der Fall ist oder im 100–Meter–Lauf. Sie werden von Ort zu Ort ziehen und ihre Darbietungen bringen. Sie werden, wie das die Hochspringer heute schon tun, in kleinen verrauchten Hallen auftreten, wo man für jeden Zentimeter höher eine Sonderprämie zahlt. Das betrifft aber nur einige dafür geeignete Sportarten. Ballspiele werden im wesentlichen unverändert bleiben. Welche Maßnahmen halten Sie für notwendig, um die schlimmsten Auswüchse zu verhindern? Erstens: Wir brauchen eine drastische Heraufsetzung des Mindestalters zur Teilnahme an internationalen Wettkämpfen. Damit würde eine Entlastung des Kinder–Hochleistungstrainings eintreten. Wir könnten vom Kinderturnen wegkommen hin zum Frauenturnen. Das würde diese Disziplin um ein Jahrzehnt zurückwerfen. Die Verbände werden begeistert sein. Die jetzigen artistischen Leistungen werden dann nicht mehr geboten. Das ist richtig. Aber danach können wir als Ärzte nicht fragen. Wir müssen uns fragen, wie wir gefährliche Entwicklungen in gesundheitlich vernünftige Bahnen lenken. Meine zweite Forderung: Die Zahl der international hochrangigen Wettbewerbe muß reduziert werden. Da haben wir schon sehr viel positives Echo. Wir brauchen längere Regenerationszeiten für die Spitzensportler, denn damit würde der Verletzungsdruck fallen. Drittens: Wir brauchen in einigen Sportarten Regeländerungen. Können Sie ein Beispiel nennen? Nehmen Sie den Fußball. Ein nennenswerter Prozentsatz von Verletzungen entsteht durch das Hineingrätschen von hinten. Hier wären Gesundheitsschäden durch eine Regeländerung leicht zu vermeiden. Ein anderer Punkt ist, daß man schon im Schulsport den Gedanken des Fairplay einbringt in jeder Stunde, das ist unverzichtbar. Andererseits wäre es im Spitzensport doch ehrlicher, sich von dem antiquierten „klassischen Sportgeist“ zu verabschieden. Warum gibt man nicht zu, daß das ein knallhartes, kommerzielles Geschäft ist... ..es ist ein Schaugeschäft. Aber wir sind Ärzte, und wir müssen auch die Zirkusleute betreuen. Wir müssen in jedem Fall die Menschen betreuen, egal wie es deklariert wird. Die seit Jahrzehnten im Spitzensport immer wieder gestellte Frage gilt der Grenze der menschlichen Leistungsfähigkeit. Wieviel Luft ist im Hochleistungssport noch drin? Wir sind in den weitaus meisten Sportarten zum Teil schon seit zwanzig Jahren in den absoluten biologischen Grenzbereich der Leistungsfähigkeit eingedrungen. Nehmen Sie den 400–Meter–Weltrekord von Lee Evans (43,86 sec), aufgestellt 1968 in Mexiko. Evans hatte damals, das kann man heutzutage exakt nachvollziehen, eine so starke Milchsäurebildung in den Zellen, daß er in seinem PH– Wert, also dem Säuerungsgrad der Zellen, auf knapp unter 6,2 gekommen ist. Wird genau dieser Wert unterschritten, dann werden die Selbstmordbomben der eigenen Zellen, die sogenannten Lysosome, aktiviert. Würde es den Menschen möglich sein, durch Belastungsmaßnahmen diese Bomben zu aktivieren, dann würden sie sein eigenes Körpergewebe auffressen. Da sind also absolute biologische Grenzen. Im Schwimmen ist allerdings die Grenze noch nicht erreicht. In anderen Sportarten werden materialbedingt weitere Verbesserungen möglich sein. Das Gespräch führte Manfred Kriener