Besonnenheit?

■ Eskalation und Staat: Beispiel Hafenstraße

Nach den Schüssen an der Frankfurter Startbahn hat in Teilen der linken Szene ein erstes, schwieriges Nachdenken über eigene Fehler begonnen, über Ursachen von Gewalt, über eine „Abrüstung“ in den eigenen Reihen, und das ist gut so. Aber kein Politiker hat bisher bekannt, daß der Staat an dieser Eskalation der Gewalt ursächlich mitgewirkt hat, indem er politische Proteste immer nur als Angriff wahrgenommen hat. Und kein Polizeiexperte hat in den letzten Tagen erklärt, daß blutige Auseinandersetzungen hätten vermieden werden können, wenn Politiker auch einmal nachgegeben hätten. Statt dessen wurden in einem Atemzug härtere Strafen und Besonnenheit gefordert. In Hamburg wäre es jetzt im Konflikt um die Hafenstraße dringend nötig, daß Politiker die proklamierte Besonnenheit unter Beweis stellten. Aber obwohl sie wissen, daß eine Räumung der längst zum Symbol gewordenen Häuser am Hamburger Hafen Auseinandersetzungen von bisher nicht gekannter Härte auslösen wird, setzen sie den gerade in greifbare Nähe gerückten Vertragsabschluß mit den Hafensträßlern wieder aufs Spiel. Diejenigen, die jetzt eine Räumung anvisieren, wissen sehr wohl, daß sie damit die Schraube der Gewalt auf ein unkalkulierbares Maß hochschrauben. Und wenn sie den Ausbruch dieser Gewalt dann noch von ein paar Metern Stacheldraht abhängig machen, müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, diese Eskalation gewollt zu haben. Daß man den Bewohnern der Hafenstraße denselben Vorwurf der Unnachgiebigkeit an einem nur noch symbolischen Punkt machen kann, spricht die Politiker von ihrer Verantwortung nicht frei. Vera Gaserow