Moskau–Reformer zu Fall gebracht

■ KP–Chef Boris Jelzin, Gorbatschow–Unterstützer, verliert seinen Posten als Parteichef von Moskau

Moskau/Berlin (dpa/taz) - „Man darf Etappen nicht überspringen und versuchen, alles auf einen Streich zu erledigen“, hatte der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow in seiner Rede zur Oktoberrevolution erklärt. Der damit gemeint war, der Hürdenläufer Boris Jelzin, ist nun zu Fall gebracht worden. Am Mittwoch wurde er seines Postens als Parteichef von Moskau enthoben, an seine Stelle trat das 64jährige Politbüromitglied Lew Saikow. Zur Begründung hieß es, Jelzin habe erhebliche Unzulänglichkeiten in seiner Arbeit als Parteichef an den Tag gelegt. Außerdem sei seine Rede vor dem ZK–Plenum im Oktober politisch falsch gewesen. Ob Jelzin auch seiner Funktion als Kandidat des Politbüros verlustig geht, ist ungewiß, wird jedoch von Beobachtern für wahrscheinlich gehalten. Das Plenum des ZK wird darüber auf seiner nächsten Sitzung entscheiden. Die Entlassung Jelzins wird von Beobachtern als Rückschlag für Gorbatschow gewertet. Allerdings ist sein Nachfolger Saikow ebenfalls ein Befürworter der Perestroika. Er war von 1976 bis 1983 Oberbürgermeister von Leningrad. Im Politbüro hatte Saikow bisher durch seine Doppelfunktion als ZK–Sekretär und Vollmitglied eine mächtige Position inne. Mit dem 56jährigen Jelzin ist einer der entschiedensten Befürworter der Gorbatschowschen Reformpolitik gegangen worden. 1985 hatte Gorbatschow den bis dahin Unbekannten aus dem sibirischen Swerdlowsk, wo er seit 1976 als Erster Sekretär des Gebietsparteikomitees fungiert hatte, nach Moskau geholt. Ende 1985 übernahm er den Moskauer Parteivorsitz als Nachfolger des Breschnew–Vertrauten Grischin. Im Februar 1986 wurde er Kandidat des Politbüros, des höchsten Parteigremiums. Fortsetzung auf Seite 6 Kommentar auf Seite 4 Der neue Moskauer Parteichef nutzte seine Anonymität, um wie einst Harun al Raschid unerkannt in Läden einzukaufen, um Versorgungsmängel zu erkennen, U– Bahn zu fahren, um den Verkehrsproblemen zu begegnen und Beschwerden Moskauer Bürger nachzugehen. Er geißelte heftig die Privilegien der Moskauer Par teibonzen und lehnte für sich selbst die Luxuswohnung seines Vorgängers Grischin ab. Bei einem Gespräch mit ausländischen Diplomaten im Oktober gab er bekannt, die Angestellten des Büros des städtischen Parteikomitees seien vollständig ausgewechselt worden, der Apparat des Moskauer Stadtrats zu 30 Prozent. Das schuf ihm nicht nur Freunde. In seiner Rede vor dem Plenum des ZK der Partei am 21. Oktober soll er heftige Kritik an diejenigen gerichtet haben, die den Reformkurs blockieren und dabei auch die Nummer Zwei der sowjetischen Führung, den konservativen Jegor Ligatschow, indirekt angegriffen haben. Es gibt auch Vermutungen, Jelzin habe den Kremlherrn selbst wegen mangelnder Geschwindigkeit im Umwälzungsprozeß sowie dessen Frau, die sich häufig an Gorbatschows Seite zeigt, kritisiert. Genaue Informationen wurden darüber jedoch nicht verbreitet - hier hat Glasnost ein Ende. Seine Rede rief auf jeden Fall heftige Empörung in den Reihen der Parteioberen hervor, so daß er seinen Rücktritt als Moskauer Parteichef anbot. Daß dieses Angebot nun auf einer Plenumssitzung des Moskauer Parteikomitees einstimmig angenommen wurde, mag auch einem neuerlichen Anlaß zuzuschreiben sein: Am Dienstag hatte die Tageszeitung Sozialistische Industrie einen Bericht veröffentlicht, dem zufolge bis 1990 die Hälfte der Beamten in den Moskauer Ministerien wegen mangelnder Effizienz ihren Arbeitsplatz eingebüßt haben werden. Diese massive Schrumpfung des aufgeblähten Beamtenapparats hat unter den Betroffenen erhebliche Unruhe ausgelöst. Entlassen wurde Jelzin nach offizieller Version wegen „großer Unzulänglichkeiten“ in seiner Amtsführung, was immer das heißen soll. Aufschlüsse über die genauen Gründe für seinen jähen Sturz könnte ein Bericht über das Moskauer Plenum geben, der für die nächsten Tage erwartet wird. -ant–