Hoffnungsvoller Prozeß für „Birmingham Six“

■ Im Wiederaufnahmeverfahren gegen die sechs zu lebenslänglich verurteilten irischen Emigranten gerät die britische Justiz immer stärker in Bedrängnis / Polizistin gab zu, daß die Angeklagten in Polizeigewahrsam geschlagen wurden / Gutachter im vorzeitigen Ruhestand

Aus Dublin Ralf Sotscheck

Nach 15 Verhandlungstagen im Wiederaufnahmeverfahren gegen die „Birmingham Six“ hat die Verteidigung im Londoner „Old Bailey“ die Beweiskette der Anklage erheblich erschüttert. Die „Birmingham Six“, sechs irische Emigranten, sind 1975 zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden, weil sie angeblich zwei Kneipen in Birmingham in die Luft gesprengt hatten. Bei dem Anschlag starben 21 Menschen, 162 wurden verletzt. Es war das schwerste Verbrechen in der britischen Geschichte. Die „Irisch–Republikanische Armee (IRA)“ bekannte sich später zu den Anschlägen, die den Höhepunkt ihrer zweijährigen Bombenkampagne in britischen Städten darstellten. Die Verteidiger der „Birmingham Six“ können mit dem bisherigen Prozeßverlauf zufrieden sein. Es gelang ihnen, die beiden Eckpfeiler der Anklage ins Wanken zu bringen. Am Montag letzter Woche widerrief die Ex–Polizistin Joyce Lynass ihre nur vier Tage zuvor gemachte Aussage und gab zu, daß die Angeklagten in Polizeigewahrsam geschlagen wurden. Auf die Frage, warum sie das nicht gleich gesagt habe, erklärte sie, daß sie und ihre Familie von anonymen Anrufern bedroht worden sei. In dieser Woche war der Wissenschaftler und Gutachter Dr. Skuse im Zeugenstand. Er verstrickte sich so offensichtlich in Widersprüche und Lügen, um seinen ruinierten Ruf aufzubessern, daß es selbst den Richtern Angst und Bange wurde. Die Bomben, die heute vor 13 Jahren explodiert waren, lösten Hysterie und eine anti–irische Pogromstimmung in Großbritannien aus. Viele Iren wurden an ihren Arbeitsplätzen verprügelt, irische Kneipen mit Benzinbomben zerstört und Waren aus dem Nachbarland boykottiert. In dieser aufgeladenen Atmosphäre wurde von Polizei und Justiz erwartet, daß die Schuldigen unter allen Umständen gefunden und verurteilt würden. Schon fünf Stunden nach dem Anschlag wurden sechs in Birmingham lebende Iren verhaftet. Nach einem 45tägigen Prozeß, in dem zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten unter den Teppich gekehrt wurden, erhielten die sechs Angeklagten lebenslängliche Haftstrafen. Das Urteil stützte sich auf zwei Punkte: die Geständnisse der Angeklagten sowie die Aussage des Wissenschaftlers Frank Skuse, der mit Hilfe des von ihm selbst entwickelten „Greiss–Tests“ Sprengstoff–Spuren an den Händen von zwei Angeklagten festgestellt hatte. Die Beteuerungen der Angeklagten, daß die Geständnisse aus ihnen herausgeprügelt worden waren, nützten ihnen nichts. Die Privatklage der sechs Iren gegen die prügelnden Polizeibeamten wurde gar nicht erst zur Verhandlung zugelassen: Falls die Angeklagten verlieren würden, wäre viel Zeit und Geld verschwendet. Gewännen sie jedoch, hieße das, daß die Polizei des Meineids und der Gewalt schuldig wäre. Das sei eine so entsetzliche Aussicht, das kein vernünftiger Mensch diese Klage zulassen könnte. Erst 1985, elf Jahre nach dem Anschlag, gab es einen Hoffnungsschimmer für die Verurteilten. Der Journalist und Labour– Abgeordnete Chris Mullin hatte in einer Fernsehsendung nachgewiesen, daß der „Greiss–Test“ völlig unzuverlässig ist. Die durch ihn nachgewiesenen Sprengstoffspuren könnten genausogut von Spielkarten, Lack und einer Reihe anderer Stoffe stammen. Drei Tage nach der Fernsehsendung wurde Frank Skuse in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Mullin erschütterte das Urteil noch weiter: Er hatte die wirklichen Bombenleger aufgespürt, die unbehelligt in der Republik Irland leben. Sie hatten über Einzelheiten gesprochen, die nur den Tätern bekannt sein konnten. Doch erst jetzt wurde das Verfahren gegen die sechs Iren neu eröffnet, nachdem Initiativen und viele Prominente unermüdlich dafür gekämpft hatten. Dieser Prozeß ist die größte Herausforderung, der sich die britische Gerichtsbarkeit jemals gegenübersah, hat man sich bisher doch mit der Aura der Unfehlbarkeit umgeben. Die logische Schlußfolgerung: wo keine Fehler eingestanden werden, sind auch keine gemacht worden. In den wenigen Prozessen, in denen der Berufung stattgegeben wurde, geschah das immer aufgrund „technischer Verfahrensfehler“. Diese Hintertür steht den Richtern im Prozeß gegen die „Birmingham Six“ nicht mehr offen, weil das Urteil schon von allen Instanzen bestätigt wurde. Aber eine Rücknahme des Urteils hätte noch weiterreichende Konsequenzen: der Weg für mehrere Neuverfahren wäre geebnet. Zur Zeit sitzen 17 Iren in britischen Haftanstalten für IRA– Bombenanschläge, die sie nach der Beweislage offensichtlich nicht begangen haben. Außerdem könnte die Todesstrafe, für deren Wiedereinführung die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung und viele konservative Abgeordnete eintreten, politisch kaum noch durchgesetzt werden. Und schließlich wären die Sondergesetze zur Terrorismusbekämpfung diskreditiert, die nach dem Attentat von Birmingham verabschiedet wurden und immer noch gültig sind. Aber noch hat die Verteidigung nicht gewonnen, zuviel steht für die britische Justiz auf dem Spiel. Ein Journalist drückte es so aus: „Es ist wie bei einem Boxkampf im Ring des Gegners und mit Heimschiedsrichtern. Ein knapper Punktvorsprung nützt dir gar nichts, du mußt k.o. gewinnen.“