G A S T K O M M E N T A R Land ohne Solidarität

■ Zu den Unruhen im rumänischen Brasov

Heute, alle zur Wahl“, hieß es am 15. November auf Seite Eins der Parteizeitung Scinpeia. „Wählt die Kandidaten der Front der Sozialistischen Demokratie und Einheit.“ Wahlfarce in Ceausescus Sonnenstaat. Wahlverse: „Wir wählen mit der Zukunft des Landes - Erleuchtet vom 13. Parteitag - Von dem würdevollsten Helden der Nation - Unter den Gewählten unser Erstgewählter.“ Dies auf dem Hintergrund der schwersten Wirtschaftskrise in der Nachkriegsgeschichte des Landes und kurz vor dem Einbruch eines weiteren schrecklichen Winters. Ein Dekret zur Rationierung von Strom und Gas für die Privathaushalte ist bereits vor zwei Wochen erschienen. In dieser Atmosphäre kam es offenbar zu den spontanen Unmutsäußerungen und Kundgebungen in Brasov, wobei auch Bilder des „geliebtesten Sohnes des Volkes“, dessen Inkompetenz und Größenwahn die Hauptursachen der Misere sind, verbrannt wurden. Nach den großen Streiks von 1977 im Schil–Tal ist es im letzten Jahrzehnt in Rumänien immer wieder zu örtlich begrenzten Protesten gekommen. Und jedesmal war es die berüchtigte Securitate, der Geheimdienst Ceausescus, die den Protest niederschlug. So auch jetzt. Das Problem ist, daß solche Unruhen in Rumänien nie Ausdruck einer organisierten politischen Opposition sind, sondern Unmutsäußerungen angesichts der unerträglichen Lebenssituation. Die Proteste werden rasch erstickt, Menschen werden verhaftet, verschwinden oft spurlos. Es sind auch diesmal keine Prominenten. Es sind Namenlose, von denen die Weltöffentlichkeit kaum je erfahren wird. Und die Intelligenz Rumäniens hüllt sich, mit ganz wenigen Ausnahmen, in Schweigen. Ein Land ohne Solidarität. Richard Wagner, Schriftsteller, 1987 aus Rumänien emigriert