Deutscher Terror in Chile

■ Die Siedlerkolonie „Colonia Dignidad“ ist jetzt endlich in die Schußlinie der Bundesregierung geraten

In der deutschen „Colonia Dignidad“ im Süden Chiles hält der Sektenführer Paul Schäfer an die 300 Deutsche gefangen. Hinter dem doppelten Stacheldrahtzaun herrscht ein grauenhafter Alltag von Folter, sexuellen Mißhandlungen und Arbeitszwang. Seit über zehn Jahren ist der Skandal den deutschen Regierungen bekannt. Auch CDU–Generalsekretär Geißler, gerade aus Chile zurück, fordert nun, daß gegen die Verantwortlichen der Colonia Anklage erhoben wird. Gestern ist der Bonner Botschafter in Santiago eigetroffen, Minister Genscher will eine Kommission zur Untersuchung der dortigen Zustände zusammenstellen. Botschafter Kullak–Ublick, bislang aufgefallen durch positive Äußerungen über Pinochet, ist am 11. November vor Ort gewesen. „Ihnen steht das Wasser bis zum Hals“, hat er Paul Schäfer gewarnt.

„Wir konnten feststellen, daß sie aus einem Stück unwirtlicher Erde ein Paradies gemacht haben. Ohne viel Aufhebens zu machen, haben die Siedler einer ganzen Region des Südens von Chile medizinische, soziale und technische Hilfe gegeben. Sie haben uns freundlich empfangen, und wir haben ohne Hindernisse irgendwelcher Art alles gesehen, was wir sehen wollten.“ Was 1978 Dieter Huber, der persönlichecher Referent von CSU–Chef Strauß, als Paradies bezeichnete, macht heute wieder Schlagzeilen: eine dreiteilige Stern–Serie und ein jüngst angelaufener Spielfilm (“Die Kolonie“) berichten von der Colonia Dignidad (die „Würde“), einer von dem Deutschen Paul Schäfer geführten Siedlung, hinter deren Stacheldrahtzäunen damals wie heute an die 300 Deutsche gefangengehalten und viele von ihnen mißhandelt werden. Schon im März 1977 hatte die bundesdeutsche Sektion von Amnesty International unter dem Titel „Colonia Dignidad - Deutsches Mustergut in Chile - ein Folterlager der DINA“ (chilenischer Geheimdienst, heute CNI) eine Broschüre herausgegeben. Die Kolonie klagte vor dem Bonner Landgericht auf Unterlassung der schwerwiegenden Behauptungen, die die 60 Seiten dicke Schrift enthielt. Im April 1978 begann das Hauptverfahren. Die Menschenrechtsorganisation führte zehn Zeugen vor: nebst Deutschen, die aus der Siedlung entflohen waren, auch Chilenen, die dort gefoltert worden waren. Einer konnte nicht mehr auftreten: der abgesprungene DINA–Agent Juan Rene Munoz Alarcon. Er hatte im Juni 1977 das Solidaritätsvikariat der katholischen Kirche in Santiago aufgesucht und dort vor Zeugen eine Erklärung auf Tonband gesprochen. Seine Aussage (siehe Kasten) kostete ihm vier Monate später das Leben. Am 25. Oktober wurde er mit 15 Stichwunden und einer Schußwunde an der Stirn in Santiago tot aufgefunden. Seit 1985 gibt es vor dem selben Bonner Gericht ein zweites Verfahren (AZ 50 J S 28585). Doch diesmal klagt das Auswärtige Amt, das gegen 33 Angehörige der deutschen Siedlung wegen Freiheitsberaubung und anderer Delikte ermitteln läßt. Hauptbelastungsmaterial sind die Aussagen des ehemaligen Baptistenpredigers Hugo Baar, der zu Jahresbeginn 1985 aus der Colonia geflohen war, und des Ehepaars Packmor, das es ihm wenige Monate später gleichtat. Sie berichteten von der grausamen Mißhandlung von Kindern und auch von den sogenannten „Herrenabenden“, bei denen die Verstöße gegen die rigide Gruppendisziplin bestraft wurden. Sie erzählten von Prügeln bis zur Ohnmacht, von elektrischer Folter und von Psychopharmaka, mit denen Mitglieder der Kolonie zu willenlosen Objekten gemacht werden sollten. Zentralfigur dieses Terrors ist Paul Schäfer, der sich „Seelsorger“ nennt und einen religiösen Wahn verkündet, Teufelaustreibung und Gehirnwäsche praktiziert und der mit Charisma und Gewalt seine Gemeinde beisammen hält. Schon im deutschen Siegburg bei Bonn hatte Schäfer mit diesen Methode die „Private Sociale Mission“ geleitet, laut Statuten ein Heim für „Jugendpflege und Jugendfürsorge“. Doch als 1961 ruchbar geworden war, daß er die Jugendlichen sexuell mißbrauchte, hatte er sich, noch bevor die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufnahm, nach Chile abgesetzt und noch im gleichen Jahr die Colonia Dignidad gegründet. Nachdem Amnesty International 1977 seine Broschüre veröffentlicht hatte, führte Schäfer den damaligen Bonner Botschafter in Santiago, Erich Strätling, höchstpersönlich durch die Siedlung. Der Diplomat fand außer einem verriegelten Tor, das zu öffnen sich Schäfer kategorisch weigerte, nichts Außergewöhnliches und empfahl im übrigen seinem Gastgeber, gegen Amnesty International gerichtlich vorzugehen. Überhaupt war es um das Verhältnis zwischen Botschaft und Kolonie nicht schlecht bestellt. Der Zahlmeister der Botschaft, ein gewisser Herr Wertenbruch, lagerte in seinem Haus Waren aus der Siedlung und vertrieb sie unter der deutschstämmigen Kundschaft in der Hauptstadt. Und die Botschaft verzichtete, entgegen einer Zusage ihres vorgesetzten Ministers im Bonner Auswärtigen Amt, jahrelang darauf, sich dadurch Einblick in die Colonia zu verschaffen, daß sie die Personen, deren Pässe abgelaufen waren, persönlich bestellte. In regelmäßigen Abständen kam ein Vertreter der Colonia, legte einen Stoß Pässe und Vollmachten auf den Tisch und ließ sie verlängern. Da die Colonia ihre Toten auf einem eigenen Friedhof beerdigte, gab es keine Kontrolle darüber, ob die Paßinhaber noch lebten. Die Renten wurden trotzdem pünktlich an die Colonia überwiesen. Offenbar als Reaktion auf die Veröffentlichung von Amnesty International formierte sich in der Bundesrepublik eine Riege von Weißwäschern. Angeregt durch einen Besuch von 35 CSU–Mitgliedern, darunter der Strauß–Referent Dieter Huber, gründete sich ein „Freundeskreis“ der Colonia Dignidad, als dessen Sprecher der Waffenhändler Mertins aus Königswinter bei Bonn auftrat. Weitere Mitglieder des illustren Kreises waren der ZDF–Magazin– Moderator Gerhard Löwenthal, der damalige Botschafter in Santiago, Erich Strätling, und der Münchner CSU–Stadtrat Wolfgang Vogelsang, der im Bayernkurier wie im „Wegweiser für Heimatvertriebene“ die heile Welt des Gutes von Paul Schäfer beschrieb, wo im übrigen zwei Würzburger Professoren gern gesehene Gäste waren: Lothar Bossle (der sich inzwischen von Schäfer distanziert hat und von Pinochet dessen Ausweisung verlangt) und Blumenwitz, beides Freunde und politische Berater von Strauß wie von Pinochet. Auch wenn in der Colonia Dignidad Angehörige der Siedlung bis heute Folterung, Psychoterror und erzwungener Behandlung mit Pharmaka ausgesetzt sind, so wurde die Siedlung seit der Veröffentlichung von Amnesty International im Jahr 1977 vom Geheimdienst nicht mehr als Folterzentrum benutzt. Doch wegen ihrer Abgeschlossenheit, ihres eigenen Flugplatzes und ihrer bis in die BRD reichenden Sendeanlage bot die deutsche Siedlung der Diktatur weiterhin gute Dienste. Schon vor dem Putsch von 1973 hatte Robert Thieme, Führer der faschistischen Bewegung Patria y Libertad, die mit Bomben und Attentaten gegen die Linksregierung Allende vorging, nach einem fingierten Flugzeugabsturz dort Zuflucht gefunden. Michael Townley, der 1976 den früheren chilenischen Außenminister Orlando Letelier in dessen Washingtoner Exil ermordete, sowie sein Mittäter Fernandez Larios, tauchten nachweislich in die Colonia Dignidad ab. Der Auftraggeber der Mörder, der damalige DINA–Chef Manuel Contreras (er leitet heute die größte private „Polizei“ des Landes), war in der Siedlung ebenso willkommener Gast wie Pinochets Gemahlin. Aber nicht nur als Folterzentrum und Zufluchtsort hat sich die Colonia Dignidad einen Namen gemacht, sie kann sich auch als Wirtschaftsunternehmen sehen lassen. Zu den Sparten landwirtschaftliche Produktion, Lebensmittelherstellung und Straßenbau kamen nach dem Putsch der Erwerb der Schürfrechte für Gold, Uran und das strategische Metall Titanium. Die Siedlung besitzt das Elektrizitätswerk der benachbarten Stadt Parral und führt bei El Roble ein gut gehendes Restaurant im Stil des Münchner Olympiazeltes mit Campingplatz und Landeplatz für die Hubschrauber und Kleinflugzeuge der hohen Gäste aus Santiago. Schäfer geht dort von Tisch zu Tisch und erschreckt blonde Jungen: „Dich behalten wir hier.“ Da selbst für manche der vom „Herrenabend“ der Kolonie genehmigten Ehen Sexualverbot besteht, gleicht Schäfers Gemeinde ihre Todesfälle durch Adoptionen aus oder lockt Kinder zu einem „Ferienaufenthalt“ in die Kolonie. Gerd Norbert/thos