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Die überschuldete Republik

■ Von 190 Milliarden DM an Konsumentenkrediten sind 20 Milliarden nicht mehr einzutreiben / Jeder zweite Haushalt ist verschuldet Immer mehr ist auch die Mittelschicht betroffen / Mehr als die Hälfte der notleidenden Kredite sind der Arbeitslosigkeit geschuldet Verbrauchergemeinschaft bezeichnet eine Million Kreditverträge als sittenwidrig / Beratungsstellen überfordert

Von Manfred Kleinhans

Im Herbst 1982 war für Rainer und Sabine Köpcke*, er 34 Jahre, Technischer Zeichner, sie 30, halbtags Stenotypistin, das Paradies auf Berlins Erde. Seit zehn Jahren sind sie glücklich verheiratet, Sabine schenkte ihrem Rainer einen Jungen, ein Mädchen war unterwegs. Unter anderem mit der Hinterlassenschaft von Sabines Großmutter hatten sie sich ein Haus mit Garten gekauft; Farbfernseher, Stereoturm, Wäschetrockner, Geschirrspülmaschine und Videorekorder. Mit einem dunkelblauen BMW 533 fuhr Rainer zur Arbeit, der Cockerspaniel freute sich, wenn Herrchen abends nach Hause kam. Zwei Mal im Jahr, im Sommer auf die Kanaries, im Winter nach St. Moritz, fuhren sie in Urlaub. Im Herbst 1987 befinden sich Rainer und Sabine im Fegefeuer. Sein Fahrzeug hat er im Alkoholrausch zu Schrott gefahren; überhaupt trinkt er mal öfters einen über den Durst, was er früher nie getan hat. Sabine kann nur noch mit Valium einschlafen. Charlie, den Cockerspaniel, haben sie ins Tierheim gegeben. Die Ehe droht auseinander zu brechen. Was war passiert? Das Haus im Grünen, die neue Wohnungseinrichtung, das Auto, der Urlaub im Ferienparadies - alles war auf Pump angeschafft. Solange beide arbeiteten, er auch nebenbei, war die monatliche Kreditrate leicht zu verkraften. Als Rainers Firma kurzarbeitete, Sabine wegen der kleinen Renate gar nicht mehr, landeten beide bei einem Kreditvermittler, als sich die Schuldbelastung monatlich auf über 800 Mark mehr als verdoppelte, und sich dort einen neuen Kredit aufschwatzen ließen, er schließlich arbeitslos wurde, die Banken die Darlehen kündigten, es Mahn– und Vollstreckungsbescheide hagelte, die Strom– und Gasnachzahlung fällig war - da geschah, was schon lange offensichtlich war: Das wackelige finanzielle Kartenhaus dieses Lebensstandards stürzte ein. 20 Milliarden verloren Familie Köpcke ist ein Einzelschicksal, aber durchaus kein Einzelfall. Nach einer Studie des Rechtssoziologen Günter Hörmann ist jeder zweite Haushalt mit Konsumentenkrediten verschuldet, durchschnittlich mit 14.000 Mark. Rund vier Millionen Bundesbürger und West–Berliner, schätzt das Statistische Bundesamt, stehen bei ihren Geldgebern in der Kreide, fast 210 Milliarden Mark sind nach Bankenmeinung nicht mehr einzutreiben. Dennoch ist im Bewußtsein der Öffentlichkeit, bei den Betroffenen, Mitbürgern und Politikern, die katastrophale Verschuldungssituation von Hinz und Kunz bislang eher ein eisernes Tabuthema. Von „moderner Skalverei“ spricht Schuldnerberater Lemming vom Diakonischen Werk, „es ist ein Hyänensystem“, sagt Schuldnerberater Simanski vom Deutschen Familienverband. Das Volumen der Konsumentenkre dite ist laut Bundesbank in der Zeit von 1950 bis 1986 von 180 Millionen auf 190 Milliarden Mark angewachsen. Seit Kohls „Wende“ 1983 zu greifen begann, hat sich die Zahl der Zwangsvollstreckungen und Zwangsversteigerungen verdreifacht. Laut Spiegel stieg die Höhe der rückständigen Zinsen auf mehr als das Doppelte, und den Geschäftsbanken wie der Dresdner schlägt die Massenpleite bereits auf ihre Bilanzen. Die Dresdner Bank verriet dem Spiegel gar: Die Summe der verlorengegangenen Kredite hat sich seit 1980 fast verdoppelt. Die Teilzahlungsbanken - das sind Banken wie Allbank, KKB, ABC– Bank, die ausschließlich im Kreditgeschäft engagiert sind - mußten ihre Rückstellungen für Verluste verdoppeln. Freitag nachmittag: Schuldnerberatung in der Verbraucherzentrale, Bayreuther Straße. Ein älterer Herr, Zugführer, Schuldenhöhe: 77.565 DM, zahlt monatlich 1.550 Mark ab. Ein sportlicher Typ, Mitte zwanzig: 30.000 DM Schulden; ein GTI auf Ratenkauf, Spielleidenschaft, Autounfall. Zuguterletzt haut ihn ein „guter Freund“ wegen eines nicht beglichenen Kredits in die Pfanne und verklagt ihn. Eine Frau in mittlerem Alter, Stenotypistin, hat bereits ihren letzten Schmuck von der verstorbenen Großmutter verpfändet; nach einem halbstündigen Studium der Unterlagen schätzt der Schuldnerberater die Verbindlichkeiten auf rund 70.000 DM. Drei beliebige Beispiele. Querbeet durch alle Bevölkerungsschichten gehe das Klientel, stellt Schuldnerberater und Rechtsanwalt Ungerer fest. Nach einer Max–Planck–Studie von 1982 sind vor allem betroffen: Angestellte, 25– bis 29jährige. Die Probleme, mit der die Mittelschicht konfrontiert ist und die bisher nur bei den Randgruppen unserer Gesellschaft festzustellen waren, machte der Berliner Sozialwissenschaftler Münder, TU, aus: Mietrückstände, Energieschuldung und daraus folgende Obdachlosigkeit, Unterhaltungsverschuldung, Lohnpfändung, Kontosperre, Zwangsräumung. Nach der Untersuchung des Rechtssoziologen Hörmann seien über die Hälfte der Kreditnehmer, nämlich 57 Prozent, deshalb notleidend, weil Schuldner arbeitslos wurden, wegen Kurzarbeit oder auch nur aufgrund des Wegfalls von Überstunden. Danach folgten Krankheit und Unfall (30 Prozent), Scheidung und Trennung (18 Prozent) als weitere Ursachen der Überschuldung. Der Schuldnerberater spricht von Überschuldung dann, wenn der Schuldner nach Abzug der Lebenshaltungskosten seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann. Der Deutsche Gewerkschaftsbund sieht die Problematik so: Die Lohnquote ist auf das Niveau von 1960 gerutscht; laufende Kürzungen der Sozialleistungen; seit Jahren schon zwei bis drei Millionen Arbeitslose. Die Neue Armut in der Überflußgesellschaft ist das Grundübel der Überschuldungseskalation. Schuhkartons voller Mahnungen Die Schuldnerberatungsstellen in Berlin (Verbraucherzentrale, Diakonisches Werk, Deutscher Familienverband, Arbeiterwohlfahrt) sind restlos überfordert. Bei der Arbeiterwohlfahrt arbeiten eine Bankkauffrau und ein Sozialarbeiter ehrenamtlich, wochenlange Wartezeiten auch beim Diakonischen Werk und beim Deutschen Familienverband. Die Leute kommen „mit Schuhkartons voll ungeöffneter Briefe“ in die Beratungsstelle, berichtet Sozialarbeiter Simanski von der Weddinger Schuldnerberatung, „Widerspruchsfristen werden verpaßt, die Post ist ungeöffnet, die Leute haben keine Kraft mehr, sich dagegen anzustemmen“. Einer Klientin, arbeitslos, Mitte vierzig, 30.000 DM Schulden, wird in einer Schuldnerberatung „empfohlen“, einfach nicht mehr zu zahlen. Hinter vorgehaltener Hand ist das Gleiche auch von einem Kreditberater einer Berliner Bank zu hören. Jeden Monat zahlt der KFZ– Schlosser Schmitt brav 400 DM an seine Bank. Nach fünf Jhren ist er glücklich, er hat alles abbezahlt. Doch seine Bank sieht das anders: Fünf Jahre lang hat Herr Schmitt Zinsen, Mahn– und Vollstreckungsgebühren bezahlt. Sein Kontostand ist nahezu unverändert mit 30.000 DM im Minus. Sind die Bundesbürger im Konsumrausch? Oder werben die Kreditinstitute hinterhältig, gar kriminell? „Das ist die Frage nach dem Ei und der Henne“, antwortet lakonisch Sozialarbeiter Simanski. „Mit Geld bist du ein Drache, ohne Geld bist du ein Wurm“, provozierte werbend vor einigen Jahren die gewerkschaftseigene Bank für Gemeinwirtschaft. Ob er will oder nicht, der Schichtarbeiter in der tiefen Provinz braucht das Automobil, um zur Maloche zu gelangen. Zweifelsohne ist der soziale Druck groß, ob beim Kauf einer neuen Video–Anlage oder bei der Reise auf die Kanarischen Inseln. Ohne Geld, das ist klar, steht der Malocher bei vielen annehmlichen Dingen dieses Lebens im Abseits. Aber eines ist ebenso klar: Wirtschaftlich betrachtet ist der Kredit im Grunde eine Ware wie jede andere auch. Im Durchschnitt dürfte heute etwa ein Drittel bis zur Hälfte des Werbeetats eines Kreditinstituts für den Vertrieb seiner „Kreditprodukte“ eingesetzt werden. Der Kunde sei nicht mehr Antragssteller, sondern ein umworbener Partner, meint ein Sparkassenmanager. Dies äußert sich auch bei der Frage nach Sicherheit. „Sie darf nicht in den Vordergrund des Gesprächs mit dem Kunden gestellt werden. Erst wenn der Wunsch des Kunden dargelegt ist..., sollte die Prüfung der Bonität erfolgen...“ Kampf ums Geschäft Und der Kampf um das zukunftsträchtige, bargeldlose Kreditgeschäft hat gerade mal erst begonnen. Ein klares Fazit seiner Untersuchung „Verbraucher und Schulden“ zieht auch Referent Hörmann: „Der private Verbrauch in der Bundesrepublik wird in tendenziell zunehmenden Maße durch Verbraucherkredite finanziert.“ Der Anteil des Konsumentenkredits am Bruttosozialprodukt stieg von zwei Promille (1950) auf zehn Prozent (1978). Die private Pro–Kopf–Verschuldung kletterte von 1950 bis 1985 auf das 800fache, während die öffentliche Pro–Kopf–Verschuldung es lediglich auf das 30fache brachte. Was passiert eigentlich, wenn die Großbanken den Kleinkunden nichts mehr geben? ABC–Bank und andere Verbraucherkreditbanken und die Kreditvermittler, die beispielsweise in der Berliner Boulevardzeitung BZ tagtäglich inserieren: Hier gibt es immer etwas. Wenn auch zu weit schlechteren Bedingungen, meist gesetzlich unzulässig überhöhten Zinsen, juristisch „sittenwidrig“ genannt. Mit ein paar Tausendern lassen sich die Kredithaie ihre Maklertätigkeit belohnen. „Machen Sie sich die Freude und wühlen Sie einmal so richtig in Geld“, ermunterte ein Kreditvermittler per Anzeige. „Nicht einmal die Bundesregierung schafft es ohne Kredit“, tröstet ein anderer. Dermaßen suggeriert werden selbst 22,2 Prozent effektive Jahreszinsen nebensächlich. Es ist schon eigenartig: Da lebt der Bürger auf Pump, weil es eben aufgrund seiner sozialen Situation, beispielsweise Arbeitslosigkeit, nicht anders geht; da wird er von den Kreditgebern schäbigst hintergangen; aber seine Bank behandelt er wie eine heilige Kuh. Daß dagegen im Kreditgewerbe nicht alles mit sauberen Dingen zugeht, ist ein alter Hut. In diesem Falle aber lebensbedrohend. „Nach Prüfung der Kreditverträge“, berichtet Rechtsanwalt Ungerer von der Verbraucherzentrale Berlin, „ist es uns gelungen, die Schulden einer Frau von 60.000 DM auf Null Mark zu senken.“ Ein extremes Beispiel, sicherlich. Nach einer Studie der Arbeitsgemeinschaft für Verbraucher (AGV) sind drei Milliarden DM vom Bürger zu Unrecht bezahlt. „Die Forderungen der Kreditbanken sind sittenwidrig“, erklärt Ungerer. Die AGV hätte weiter herausgefunden, daß 90 Prozent aller Kreditverträge mit Teilzahlungsbanken aus dem Jahre 1978 wegen überhöhter Zinsforderungen nichtig sind. Insgesamt seien mindestens eine Million Ratenkredite sittenwidrig, aber lediglich drei bis fünf Prozent der Geschädigten würden sich dagegen im Mahnverfahren wehren. Was wucherisch oder sittenwidrig ist, hängt indes vom Gutdünken des jeweiligen Richters ab. Einige Kenner nennen den Ausgang des Urteils Zufall, die anderen sind sicher, daß darum gewürfelt wird. „Selbst die effektive Jahreszinsberechnung“, so Ungerer, „ist nicht gleichlautend.“ Und wenn eine Provision für den Kreditvermittler im Zinssatz versteckt ist, dann könnte man dies auch „arglistige Täuschung“ nennen. Der „sittenwidrige“ Paragraph 138 des Bürgerlichen Gesetzbuches ist über 100 Jahre alt und taugt nicht mehr allzu viel für die heutigen Kreditgeschäfte einer Bank. Sind die Banken der Sittenwidrigkeit überführt, bleibt immer noch zweifelhaft, ob die Banken das zu viel geforderte Geld zurückbezahlen müssen. Zum einen sind die Rückzahlungsansprüche längst verjährt, zum anderen ist der Bürger vor den Banken nicht hinreichend geschützt. Zwar gibt es den Paragraphen 302a des Strafgesetzes, der Gefängnisstrafe für „Wucher“ vorsieht. Hierzu erklärt der Berliner Oberstaatsanwalt Prutz in der SPD–Anhörung „Moderner Schuldturm“, daß während seiner langjährigen Tätigkeit in Berlin keine Anklagen wegen Kreditwucher nach Paragraph 302a StGB erhoben worden seien. Der Knackpunkt scheint der: Den Banken müsse die „strafbare Ausbeutung von Zwangslage, Unerfahrenheit, Mangel an Urteilsvermögen oder Wissensschwäche nachgewiesen werden“. Das Nächstliegende im Schuldenkarussell wäre eine Gesetzesänderung. Aber lediglich die SPD–regierten Länder wollen beispielsweise den verhängnisvollen Paragraphen 367 BGB ändern. Der besagt: Die Schulden werden zuerst auf die Kosten, dann auf die Zinsen und zuletzt auf die Hauptforderung angerechnet. Würde zuerst die Hauptschuld getilgt werden und erst danach Kosten und Zinsen, würden auch die Schulden schneller sinken. Doch der SPD–Vorschlag scheiterte bisher an der CDU– Mehrheit im Bundesrat. Natürlich lehnt auch die Berliner Industrie und Handelskammer eine Gesetzesänderung ab, natürlich auch der Berliner Bankenverband Konsumentenkredit und Gewerbliche Spezialkredite (BKG): „Das Gerede vom modernen Schuldenturm ist ein Märchen.“ Rechtsanwalt Ungerer von der Verbraucherzentrale fordert „ein Verbot der Lohnabtretung und der Kreditkündigung bei unverschuldetem Verzug der Rückzahlung“. Wenn Schuldner schuldlos in die prekäre finanzielle Lage geraten seien, also durch „Arbeitslosigkeit, Arbeitskampf, Krankheit oder Unfall“, dann können die Schuldner die Gerichte um „Vertragshilfe“ angehen, so ein SPD–Vorschlag. Gar nicht zu reden von der Reformidee des Hamburger Rechtsprofessors Reifner, Schuldnern unbezahlbare Kredite einfach zu erlassen. Geradezu revolutionär wäre sein Vorschlag, den Schuldner generell per Gesetz von der Rückzahlungspflicht freizustellen, wenn er wegen Arbeitslosigkeit oder Krankheit zahlungsunfähig geworden ist. Die Rückzahlung sei dann als „unmöglich im Rechtssinne“ zu betrachten. Aber nach der herrschenden Rechtsauffassung hat man Geld immer zu haben. Deshalb wird sich auch in absehbarer Zeit am BGB nichts ändern. Geändert hat sich doch etwas: Mitte September dieses Jahres kam aus Karlsruhe ein verbraucherfreundliches Urteil. Der Bundesgerichtshof hat den Kreditwucher eingeschränkt. Danach können sich die Verbraucher auch dann gegen sittenwidrige Teilzahlungskredite wehren, wenn der Kuckuck bereits vor der Tür steht oder wenn der Schuldner „vergessen“ hat, gegen den Mahn– oder Vollstreckungsbescheid Einspruch beziehungsweise Widerspruch einzulegen. Bisher galt: War ein Kredit gekündigt, konnten die Gläubiger, lies Banken, sofort ein Mahnverfahren einleiten, gleichgültig, ob die Zinsen überhöht, also sittenwidrig, waren oder nicht. * alle Namen geändert

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