Die Natur als Organspender

■ Sollen mißgebildete Feten als „Sonderfälle der Natur“ bei Transplantationen dienen? / Von Imma Harms

Zwanzig Jahre nach der ersten Herztransplantation ist die Übertragung von menschlichen Organen fast schon zur medizinischen Routine geworden. Doch gleichzeitig wuchs die dringliche Nachfrage. Zig–Tausende von Todkranken warten auf ein gesundes Organ. Auf der Suche nach Organspendern sind Ärzte dazu übergegangen, mißgebildete, nicht lebensfähige Neugeborene oder Feten als Spender zu verwerten. Darüber wurde auf dem Berliner Kongreß der Perinatalmediziner heftig gestritten.

Ein „heißes Eisen“ wollten die Wissenschaftler auf dem 13.Kongreß für Perinatale Medizin nach Ankündigung der Pressestelle anpacken, als sie am vergangenen Donnerstagabend zur Diskussion über „Feten als Organspender“ einluden. Die Debatte im überfüllten Saal 8 des Berliner CongressCentrums wurde zum Krieg der Definitionen. Ist es zulässig, Anencephale (ohne Großhirn geborene, daher nicht lebensfähige Kinder) als Organspender zu benutzen? Der Referent der Veranstaltung, Prof. Fritz Beller aus Münster, hatte das schon bei drei heftig umstrittenen Transplantationen praktiziert. „Sagen Sie doch mal, was in Ihren Augen ein Anencephale nach seiner Geburt ist“, fragt eine aufgebrachte Diskussionsteilnehmerin. Den Referent: „Ein Toter.“ - „Ein Toter... was? ...Mensch?!“, bohrt sie weiter. „Nein“, verbessert sich Beller, „ein Nie–Lebender, ein Sonderfall der Natur. Ein Experiment der Natur gewissermaßen.“ Geradezu verzweifelt klammert sich der Arzt an die Plausibilität seiner Sichtweise, verweist auf die Rechtssprechung, die Anencephale nicht als „Leibesfrucht“ einstuft, auf die Hirntod– Definition bei Unfallopfern und auf die „strenge Wissenschaft lichkeit“ seiner Auffassung. Nicht ohne Grund - denn sollte sich seine Vorstellung, daß ein Anencephale nie gelebt hat, nicht halten lassen, dann hätte sich der Mediziner schuldig gemacht, einem Menschen bei lebendigem Leibe seine Organe herausoperiert zu haben. Bereits vor zweieinhalb Jahren hatten Beller und sein Kollege Holzgreve drei Anencephale als Nierenspender benutzt. Im ersten Fall, so berichtete der Arzt auf dem Kongreß, sei das Motiv eine Zwillingsschwangerschaft gewesen, wobei ein Kind gesund, das andere anencephal gewesen sei. Damit die Mutter nicht auch das gesunde Kinde verlor, trug sie beide aus und stellte das nicht lebensfähige geschädigte „auf eigenen Wunsch“ (so betonte Beller) für die Transplantation zur Verfügung. Auch in den beiden anderen Fällen seien die Eltern der Anencephalen in keiner Weise gedrängt oder beeinflußt worden. Daß gestorbene Neugeborene als Organspender benutzt werden, ist nichts Ungewöhnliches. Die von Beller verwendeten Anencephalen wurden jedoch durch Kaiserschnitt entbunden und sofort künstlich beatmet. Weil Kinder, deren Tod (nach konventioneller Auffassung) erst abgewartet wird, sich als Organspender nicht bewährt hätten, wie Beller berichtet, erhielt er ihre Lebensfunktionen durch Geräte aufrecht und setzte den Tod per Definition voraus. Hier setzt die massive Kritik nicht nur aus fachwissenschaftlichen Kreisen, sondern auch aus den Reihen der feministischen Kritikerinnen ein, die zu der Diskussionsveranstaltung erschienen waren. In einem vom Feministischen Frauengesundheitszentrum und anderen Organisationen unterzeichneten und auf der Veranstaltung verteilten Flugblatt heißt es: „Wir sind entsetzt über eine Entwicklung in der Medizin, die stark geschädigte Säuglinge zu Organspendern macht. Sie werden zum Sonderfall der Natur - zu Nicht–Menschen erklärt. In dieser Logik muß ihr Leben nicht mehr geschützt und ihr Körper kann einer medizinischen Verwertung zugeführt werden.“ Daß Anencephale nicht lebensfähig sind, wird auch von den Kritikerinnen nicht bezweifelt. Jedoch sehen sie die Gefahr, daß sich die Spendergruppe der nicht lebensfähig mißgebildeten Kinder unter dem Druck des großen Bedarfs nach Spenderorganen (siehe nebenstehenden Artikel) schnell ausweitet. Frauen könnten gedrängt, möglicherweise sogar bezahlt werden, um Kinder als „Organspender“ auszutragen. Eine Teilnehmerin weist auf die In–Vitro–Befruchtung hin. Sie hat die Dienstleistungsbranche der „Leihmutterschaft“ entstehen lassen. Solche Entwicklungen weist Beller empört von sich. „Sie können mich doch nicht dafür verantwortlich machen, wenn Ärzte irgendwo auf der Welt Mißbrauch mit einer solchen Definition betreiben! Über Kinderverkäufe als Organspender bin ich genauso entsetzt wie Sie!“ Vor etwa einem Jahr waren nach Informationen der französischen Zeitschrift Temoignage chretien Fälle aus Honduras und Guatemala bekannt geworden, wonach mit neugeborenen Kindern als Organspendern ein regelrechter Exporthandel betrieben wird. Wie wenig die strenge Hirntod– Definition bei Anencephalen einen möglichen Mißbrauch verhindern kann, zeigten einige Diskussionsbeiträge von Medizinern. Sie wollten als Voraussetzung für die Organspende lieber den „sicheren Tod“ des Neugeborenen festschreiben. Danach kämen dann aber auch andere mißgebildete Kinder infrage, genannt wurden das Potter–Syndrom und die Trisomie 18. Beller verwahrt sich gegen eine solche Ausweitung. Für ihn kommen ausschließlich Anencephale als Organspender in Betracht, womit er allerdings bereits ein Riesenreservoir von Spenderorganen erschlossen hätte, vorausgesetzt, die Mütter ließen sich motivieren, diese Kinder „auf eigenen Wunsch“ auszutragen: In der Bundesrepublik ist immerhin jedes tausendste empfangene Kind anencephal, 30 Prozent von ihnen kommen lebend zur Welt. Seinen Kritikerinnen wirft Beller Schizophrenie vor, denn abgetrieben werden dürfen als anencephal diagnostizierte Kinder laut Paragraph 218 auch nach der 22. Schwangerschaftswoche noch. „Tot genug zum Abtreiben, aber nicht tot genug zur Organspende?“, fragt er provokativ.