Noch einige Leichen im Keller?

■ Der Skandal um den Berliner Verfassungsschutz zieht immer weitere Kreise

Erst ging es nur um die Observation einzelner Mitglieder der Alternativen Liste, mittlerweile geht es um die Überwachung der Partei insgesamt. Aber nicht nur der AL. Empört mußte die SPD zur Kenntnis nehmen, daß in den letzten Jahren mindestens sieben Dossiers über die Partei angefertigt wurden, die der Innensenat unter Verschluß hält. Jetzt hält auch die SPD einen Untersuchungsausschuß nicht mehr für ausgeschlossen.

„Die AL“, so der CDU–Abgeordnete Wienhold im Innenausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses, „braucht sich angesichts der Vielzahl von Extremisten in ihren Reihen doch wahrlich nicht zu wundern, wenn sie durch den Verfassungsschutz observiert wird. Daraus ergibt sich natürlich auch, daß es viele Akten gibt.“ Damit ist die Linie beschrieben, mit der Senat und Regierungsparteien in Berlin seit zwei Wochen einen Skandal einzudämmen versuchen, der insbesondere in den betroffenen Parteien AL und SPD die Gemüter erregt. Seit gut informierte Kreise aus dem Landesamt für Verfassungsschutz, die „mit der Art und Weise, wie die Spitze des Hauses mit der gewählten Opposition umgeht, nicht mehr einverstanden“ sind, ihr Mißfallen auch außerhalb des Dienstes artikulieren, wird deutlich, daß die CDU/FDP–Regierung in den letzten sechs Jahren den Geheimdienst gezielt zur Überwachung der Opposition eingesetzt hat. Im Zentrum der Observation steht zweifellos die AL. Seit die Liste sich 1978 zur Partei konstituierte und 1981 erstmals den Einzug ins Abgeordnetenhaus schaffte, konnte die Abteilung 4 des VS, zuständig für den Bereich „Linksextremismus“, viele alte Bekannte begrüßen. Etliche ehemalige Mitglieder und Anhänger der verschiedensten K–Gruppen hatten sich in der demokratischen Sammelbewegung AL plaziert, einige gelangten als Abgeordnete ins Parlament oder in die Bezirksverordnetenversammlungen. Obwohl längst bar jeder umstürzlerischen Ambitionen, schleppten sie in ihre neue politische Heimat nicht nur ihre alten VS–Akten mit, sondern provozierten auch das anhaltende Interesse des „Dienstes“ an ihrem weiteren politischen Weg. Die Abteilung 4 konnte nahtlos die „Wölfe im Schafspelz“ übernehmen. Mit dem Einzug der AL ins Abgeordnetenhaus stand ihr auch ein Sitz in dem damaligen „Ausschuß für Sicherheitsfragen“ zu. Der Kandidat der Alternativen für diesen Sitz war der Aktions–Politiker Dieter Kunzelmann. Sicher ist, daß die Alliierten einen Einblick der AL in den Geheimdienstsumpf in keinem Fall zugestimmt hätten. So löste das Abgeordnetenhaus 1981 kurzerhand den „Ausschuß für Sicherheitsfragen“ auf. Damit war der Verfassungsschutz sechs Jahre lang ohne jede parlamentarische Kontrolle. Erst Anfang dieses Jahres, als erneut ruchbar wurde, wie tief der Berliner VS in die Schmücker–Affäre verstrickt ist, wurde der öffentliche Druck so groß, daß sich der Diepgen–Senat entschloß, dem „Dienst“ eine „parlamentarische Kontrollkommission“ (PKK) anzumontieren; unter Ausschluß der drittstärksten politischen Kraft in der Stadt, der AL. Damit stand die AL erneut vor der Tür und muß nun versuchen, das Treiben des Verfassungsschutzes im Innenausschuß aufzuklären. Entsprechend forderte Fraktionschef Wieland zu Beginn der Sitzung am 30. November eine Aussprache über den Bericht der taz vom gleichen Tage. Die taz hatte detailliert dargestellt, daß die AL bis in alle Parteigliederungen „Zielobjekt“ des VS ist, daß sie bis in die Bezirksversammlungen auch unter Einsatz „nachrichtendienstlicher Mittel“ (Telefon– und Postüberwachung, Einschleusen von V–Leuten) überwacht und ausgespäht wird. Eilig verließ Innensenator Kewenig die Sitzung und überließ seinem Staatssekretär die dünnen Statements: „Es gibt keine systematische Ausspähung der AL, aber es könnte sein, daß einzelne Personen überwacht werden, die auch Mitglieder der AL sind.“ Im folgenden zweistündigen Rede– und Antwortspiel wiederholte der Staatssekretär diese Aussage wie ein Anrufbeantworter. Vor allem zeigte er keine Neigung, präziser Auskunft zu geben zu der Frage, wieviele unter „einzelne Personen“ zu vestehen sei. Als der SPD– Abgeordnete und langjährige Senator Pätzold erklärte, daß ihm die Aussagen des Staatssekretärs zu dürftig sind, zumal auch der SPD Hinweise vorlägen, daß sie ausgespäht wird, wurde es sehr hektisch. Die Bombe platzte, als Pätzold bekannte, es sei doch ein offenes Geheimnis, daß der ehemalige CDU–Innensenator Lummer eine Expertise über die AL in Auftrag gegeben hatte, die zu dem Resultat kam, die AL sei eine verfassungsfeindliche Organisation. Prompt forderten die CDU–Mitglieder den Abbruch der Sitzung und das Zusammentreten der PKK - unter Geheimhaltung und an geheimem Ort. Nach der PKK tagte erneut der Innenausschuß in öffentlicher Sitzung. Voller Saal, große Besetzung: Kewenig, sein Staatssekretär und VS–Chef Wagner wollten „Rede und Antwort stehen“. VS– Chef Wagner wußte immer noch nicht, wieviele AL–Mitglieder bespitzelt werden, bestritt gleich wohl, daß es die Partei selbst ist, die ausgespäht wird. Eine flächendeckende Ausspähung unter Einsatz aller nachrichtendienstlichen Mittel erfahre nur die kommunistische SEW, erklärte Wagner. Ja, und die Treffpunkte und Veranstaltungen der Autonomen, und schließlich wolle man doch wissen, wer in Berlins größtem Alternativzentrum Mehringhof „ein– und ausgeht“. Da die AL mit ihrem Drall nach links eben in dieser Szene auch Berührungen hat, braucht sie sich nicht zu wundern... Natürlich setze man auch nachrichtendienstliche Mittel ein. Dem SPD–Abgeordneten und PKK–Mitglied Pätzold war das alles zu wenig. Hartnäckig wollte er von Wagner wissen, wie das denn mit der Ausspähung der SPD sei. Ja, es gebe sechs oder sieben Dossiers über die SPD, räumte Wagner ein. Pätzold war empört und legte nach: Ob es zutreffe, daß am Tag nach dem taz–Bericht der „Dienst“ einem Bienenschwarm glich, in dem mit großer Betriebsamkeit viel Papier über die Grünen vernichtet worden sei. Akten vernichtet, nein, darüber sei ihm nichts bekannt, war das einzige, was VS–Chef Wagner dazu zu sagen hatte. Aber auch dabei kann man getrost vom Gegenteil ausgehen. Wagner, der noch bis vor einem halben Jahr VS–Chef in Baden–Württemberg war, hat einschlägige Erfahrungen. Als die Datenschutzbeauftragte Ruth Leutze Anfang der achtziger Jahre dahinter kam, daß unter VS–Chef Wagner im Zuge der Rasterfahndung nach Spionen Tausende und Abertausende von Hotelanmeldeformulare vom VS eingesammelt, ausgewertet, abgespeichert und darüber Karteikarten angelegt wurden, bestritten sowohl Wagner wie auch der Innenminister diese ungesetzlichen Praktiken. Obwohl Frau Leutze die Kartei bei einem ersten Besuch gesehen hatte, konnte sie bei ihrem zweiten Besuch nur noch den früheren Aufbewahrungsort der Kartei betrachten: „ein großer Schrank mit zwölf jeweils dreiteiligen Schubladen - leer“. Till Meyer