„Colonia“–Protokoll belegt Zwangsbehandlung

■ Ein internes Protokoll aus der „Colonia Dignidad“ schildert ein Tribunal gegen geflohene Kolonie–Mitglieder / Kritiker wurde als angebliches Psycho–Wrack entführt und zurück in die Kolonie gebracht / Wegen Verjährung der Tatbestände Appell an „ein höheres Gericht“

Berlin (taz) - Neue Einzelheiten über die Colonia Dignidad enthüllt ein Protokoll einer „außergewöhnlichen Generalversammlung“ der deutschen Siedlung in Südchile vom 26. Oktober 1985. In dem fünfzehnseitigen Text, der von leitenden Mitgliedern der Kolonie gezeichnet ist (siehe Faksi mile), werden die Ergebnisse einer „Untersuchungskommission“ erläutert, die die Colonia Dignidad nach der Flucht dreier Mitglieder 1984 und 1985 eingesetzt hatte. An der fünfstündigen Versammlung nahmen laut Protokoll 229 der 250 Mitglieder der Siedlergemeinschaft teil. Bei den Geflüchteten handelt es sich um das Ehepaar Packmor und den Baptistenprediger Hugo Baar, de ren Aussagen jüngst die „Colonia“ wieder ins Rampenlicht der Medien gezerrt haben. Einer Kommission, die im Auftrag des Auswärtigen Amtes die Verhältnisse in der Siedlung untersuchen sollte, in der Menschen gefoltert und mit Psychopharmaka seelisch gebrochen werden, wurde der Zu tritt zur Colonia Dignidad in der vergangenen Woche verweigert. Die protokollierte „Generalversammlung“ von 1985 wurde offenbar einberufen, um den Siedlern Baars Flucht aus der Kolonie im Dezember 1984 zu erklären. Baar war immerhin eines der prominentesten Mitglieder der Colonia Dignidad und vertrat diese bei ihrer Verleumdungsklage gegen amnesty international, die 1977 über die Benutzung der Siedlung als Folterlager des chilenischen Geheimdienstes berichtet hatte. Im Protokoll wird nun Baar als alkohol– und drogensüchtiger, hysterischer Psychopath abqualifiziert. Baar hatte 1962 bis 1975 die Siegburger „Private Sociale Mission“ geleitet, aus der zuvor die Colonia Dignidad entstanden war. In Siegburg habe ein „Psychoterror ohnegleichen“ und ein „System der gegenseitigen Bespitzelung“ geherrscht, heißt es nun im Protokoll. In zahlreichen Punkten kehrt die Colonia, wie aus dem Dokument hervorgeht, die gegen sie erhobene Vorwürfe um und lastet sie ihren Anklägern an. Plastisch wird im Protokoll geschildert, wie Baar 1975 nach Chile zurückgebracht wurde. Die Entführung wird als Kurreise eines Drogenabhängigen beschrieben: Die ihn begleitende Krankenschwester mußte ihn „im Flugzeug spritzen“. Weiter heißt es: Er war sehr flatterig und äußerte immer wieder die Furcht vor der Begegnung mit den Direktoren der Sociedad Dignidad in Chile. Kurz vor der Landung verlangte er erneut eine Spritze. Er war unglaublich fahrig, Hände, Kinn und Mund zitterten heftig... Seine Entziehungskur unter Leitung von Prof. Dr. Varas umfaßte monatelange stationäre Behandlung mit Tag– und Nachtwachen an seinem Bett.“ Die geschilderte Zwangsbehandlung mit Bewachung fand im Krankenhaus auf dem Gelände der Kolonie statt. Dr. Varas ist ein chilenischer Nervenarzt. Dem Ehepaar Packmor wirft die siedlungsinterne „Untersuchungskommission“ vor, „Behörden und Privatleute“ unter anderem über „Waffenschmuggel in großem Umfang“ informiert zu haben. Diese Vorwürfe haben laut Protokoll auch die deutsche Botschaft in Santiago erreicht. Das Dokument sagt nichts über eine Reaktion der Botschaft aus oder darüber, woher die Siedlung wußte, daß das später geflohene Mitglied die Botschaft informiert hatte. Das der taz vorliegende Dokument hört sich überwiegend wie ein psychiatrisches Gutachten an, ist aber als Gerichtsprotokoll abgefaßt und schlägt Strafen nach bundesdeutschem Recht vor. Da die Tatbestände verjährt seien, müßten die Geflohenen nun „ihre Taten vor einem höheren Gericht verantworten“. Die Hetze eines der Geflohenen habe - so heißt es weiter im Dokument - der Siedlung „Leiden, Trauer und fatale Konsequenzen eingebracht“. Diese Formulierung deutet auf einen oder mehrere Todesfälle hin. Der gesamte Text ist nämlich aus unbekannten Gründen als „Übersetzung“ gekennzeichnet; das spanische Wort „fatal“ kann oft mit „tödlich“ ins Deutsche übersetzt werden. Über den tatsächlichen Grund der „fatalen Konsequenzen“ sagt der Text nichts. Das von einem ungenannten Notar beglaubigte Dokument ist von fünf Mitgliedern der Colonia Dignidad geschrieben, unter ihnen der frühere Offizier der deutschen Luftwaffe, Hermann Schmidt, der Arzt Dr. Hartmut Hopp und Karl van Berg, Leibwächter des Sektenführers Paul Schäfer. Aurelia Kanterburg/thos