Modell für Aussteigerinnen

Ein tristes Bürogebäude mit endlos langen, düsteren Fluren. Dann plötzlich hinter einer der vielen Türen nicht förmliche Büro–Atmosphäre, sondern behagliche, wohnlich eingerichtete Räume - der Treffpunkt des Berliner Prostituierten–Selbsthilfeprojekts „Hydra“. Seit Mai dieses Jahres geht es bei ihnen zu wie in einem Taubenschlag, erzählt Inge, eine der vier bezahlten „Hydra“–Mitarbeiterinnen. Nicht nur Prostituierte kommen verstärkt, sondern die „Hydra“–Frauen sind auch für MitarbeiterInnen aus Ämtern, AIDS– und anderen Beratungsstellen, für PolitikerInnen und JournalistInnen wichtige Gesprächspartnerinnen geworden. „Es klingt zynisch“, meint Inge, „aber die Bedrohung durch AIDS macht vieles möglich.“ Unter anderem, daß „Hydra“, 1980 als Projekt zur Verbesserung der Lebens– und Arbeitsbedingungen von Prostituierten gegründet, seit Mai vom Berliner Senat als Modellprojekt für ausstiegswillige Prostituierte gefördert wird. Und aussteigen wollen, besonders seit der Bedrohung durch AIDS, viele. Denn trotz Aufklärungskampagnen und ständiger Diskussionen, die Prostituierte mit Freiern führen, gibt es, weiß Inge, „noch immer viele Männer, die darauf bestehen, ohne Kondom zu vögeln. Obwohl die Frauen grundsätzlich nur noch mit Gummi arbeiten wollen, ist es für sie schwer, das gegenüber den Freiern durchzusetzen.“ Denn die Folgen sind Verdiensteinbußen, die sich viele Frauen angesichts ihrer hohen Kosten und Schulden kaum leisten können. Entschieden wendet Inge sich gegen das verbreitete Vorurteil, daß Prostituierte als besondere „Risikogruppe“ zur Verbreitung von AIDS in erhöhtem Maße beitrügen. Es seien die Freier, die durch ihr „leichtsinniges und verantwortungsloses Verhalten“ nicht nur die Prostituierten, sondern auch die Ehefrauen infizierten. Tatsächlich ist das AIDS–Virus, so das Ergebnis einer Repräsentativumfrage unter Prostituierten in Nürnberg, in dieser Gruppe nicht weiter verbreitet als im Durchschnitt der Bevölkerung. Doch obwohl diese Erkenntnis die zunehmende Hetze gegen Prostituierte beschwichtigen könnte, soll sie nach Mitteilung eines Sprechers des Berliner Gesundheitssenats nicht an die breite Öffentlichkeit. Damit die Freier nicht „aus einem Gefühl von Sicherheit“ Kondome ablehnten. In Zusammenarbeit mit Gesundheits– und Sozialbehörden sowie den Landesarbeitsämtern helfen die „Hydra“–Mitarbeiterinnen Prostituierten, die aussteigen wollen, geeignete Arbeitsplätze und Qualifizierungsmaßnahmen, Möglichkeiten und Schulabschlüsse, Ausbildungen und Umschulungen in Pflege–, Büro– und Handwerksbetriebe zu finden. Die Mittel, die der Berliner Senat mit 146.000 Mark für 1987 zur Verfügung stellt, sind in einer Stadt, die offiziell 3.600 Prostituierte registriert hat, geradezu lächerlich. Dennoch bewerten die „Hydra“–Frauen den Versuch positiv. Von 86 hilfesuchenden Prostituierten haben sie rund 60 in verschiedene Einrichtungen vermittelt. „Und nur zwei“, berichtet Inge zufrieden, „haben die Maßnahme wieder abgebrochen.“ Dieses „gute Ergebnis“ erklärt sie damit, daß die Frauen - anders als auf den Arbeitsämtern - „sehr persönlich und je nach Interessen und Fähigkeiten“ von ihnen beraten und in entsprechende Stellen vermittelt werden. Als Besonderheit des Projekts nennt die „Hydra“–Mitarbeiterin, daß ehemalige Prostituierte in Programme des Arbeitsamts vermittelt werden, ohne die sonst üblichen Voraussetzungen erfüllen zu müssen. Die Frauen können auch von heute auf morgen aussteigen und erhalten dann sofort Sozialhilfe, ohne daß ihre Eltern dafür herangezogen werden. Denn viele Eltern wissen nicht, wie die Tochter lebt, und die Frauen würden nicht riskieren, daß durch den Bezug von Sozialhilfe die Eltern plötzlich die Wahrheit erführen. Die „Hydra“–Mitarbeiterinnen führen im Rahmen dieses Modellprojekts nicht nur die Berufs– und Arbeitsberatung für ausstiegswillige Prostituierte durch, sondern sie klären mit ihnen auch alle anstehenden sozialen Probleme. Die fangen bei der Beschaffung von KiTa–Plätzen für Kinder an, gehen über die Frage von Wohnverhältnissen, von Drogen–, Medikamenten– und Alkoholproblemen bis hin zur Erstellung von Konzepten zur Schuldenabzahlung. Denn gerade die machen es Prostituierten schwer auszusteigen. Zusätzlich bauen die „Hydra“– Frauen ein Kontaktnetz zu Leuten in Behörden und Betrieben auf und machen das Projekt durch „streetwork“ unter den Prostituierten bekannt. Mit Öffentlichkeitsarbeit sind sie, so Inge, „vorsichtig“. Zu den ohnehin verbreiteten Vorurteilen gegen Prostituierte kommt angesichts solcher Unterstützungsmaßnahmen auch noch „Neid“, ist ihre Erfahrung. Zum Beispiel habe sich ein Taxifahrer über dieses „Ausstiegsprogramm“ empört: „Soll ich meine Tochter erst auf den Strich schicken, damit sie eine Lehrstelle bekommt?“ Deshalb macht Inge auch ganz klar: „Sonderprogramme wären überflüssig, wenn Prostituierte akzeptierte Mitglieder dieser Gesellschaft wären“, mit allen Rechten und Pflichten anderer Berufstätiger. Doch da Prostitution als Beruf nicht anerkannt ist, und Prostituierte sich nicht sozialversichern können, haben sie keine Leistungsansprüche beim Arbeitsamt, weder auf Arbeitslosengeld noch auf Umschulungs– und Fortbildungsmaßnahmen. Sie erhalten auch keine Erwerbsunfähigkeitsrente, es sei denn, sie zahlen eine teure Privatversicherung. Dazu kommt, daß Prostituierte mangels Verdienstbescheinigungen zum Beispiel nur teure Wohnungen mieten können, keine KiTa– und Krippenplätze für ihre Kinder bekommen und Tagesmütter zu hohen Preisen anstellen müssen. Bedingungen, die es den Frauen schwer machen, aus eigener Kraft aus der Prostitution auszusteigen. Gitti Hentschel