Raketen und Schandmauer beim Gala–Diner

■ Beim ersten Besuch des DDR–Staatsratsvorsitzenden Honecker in einem Land der westlichen Siegermächte wurden keine Entscheidungen erwartet/ Mitterrand spricht von Freiheit, Honecker von Frieden und Abrüstung / Das Ereignis selbst war auch schon das Ereignis

Berlin(dpa/afp/ap/taz) - In Paris war der Besuch des DDR– Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker von Anfang an nicht als großes Ereignis angesehen worden. Die Tageszeitung Le Monde konnte sich nicht entschließen, das Ereignis auf die erste Seite zu setzen, und auch die Pariser Bevölkerung hielt sich zurück, als Honecker die Champs– Elysees entlangfuhr. Ein westlicher Osteuropaexperte, der ungenannt bleiben wollte, erklärte gegenüber der taz: „Es ist doch nicht erstaunlich, daß sich niemand so recht für diesen Besuch interessiert. Da treffen sich zwei Konservative, das ist alles.“ Schon vor Beginn der Reise war klar, daß die ser erste Besuch eines DDR–Oberhaupts bei einem der westlichen Mandatsmächte keinerlei Verträge oder Erklärungen nach sich ziehen würde: Das Ereignis selbst sollte das Ereignis sein. Während der französische Staatspräsident Mitterrand bei einem Empfangsessen für seinen Gast von dem Geist der Freiheit sprach, der die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus beseelt habe, und der wieder zum Gemeingut ganz Europas werden solle, erinnerte Honecker seinen Gastgeber daran, daß sich aus dem gemeinsamen antifaschistischen Kampf die Verantwortung für mehr Abrüstung ergebe. Und während Mitterrand erklärte, Frankreich strebe eine Wiederversöhnung mit allen Deutschen an, und die Jugend auf beiden Seiten des geteilten Europa habe die Grenzen bereits durchbrochen (“Ich weiß, daß man in der DDR den Rock sehr liebt“), forderte Honecker eine umfassende nukleare Abrüstung. Angesichts des wachsenden Warenaustauschs sei es paradox, erklärte Mitterrand während des Banketts, wenn die unzeitgemäßen Barrieren, die die Bewegungsfreiheit von Personen und Ideen einschränkten, nicht auch abgebaut würden. Premierminister Jacques Chirac setzte bei einem Empfang, den er am Freitag für den deutschen Gast gab, noch eins drauf: „Diese Mauer, die (Europa) zerreißt und die eines Tages, wie ich hoffe, fallen wird, so wie die nutzlosen und lächerlichen Mauern der Festungsstädte von einst gefallen sind, erinnert daran, daß die Teilung unseres Kontinents nicht nur ein Konzept, sondern schmerzliche Realität sind.“ Honecker hingegen erklärte, die DDR habe ein besonderes Interesse an weiteren konkreten Ergebnissen auf dem Gebiet der Abrüstung. Unterschiedliche Gesellschaftsordnungen und Wertvorstellungen sollten kein Hindernis sein für eine „breite Koalition des Friedens, der Vernunft und des Realismus“. Mit seinem Vorschlag einer dritten Nullösung für atomare Kurzstreckenraketen, den er kurz vor seiner Parisreise in einem Brief an seinen BRD–Kollegen Kohl geäußert hatte, stieß Honecker in Paris auf taube Ohren. Mitterrand entgegnete ihm, Frankreichs Atomwaffen hätten unabhängig von ihrer Reichweite eindeutig strategischen Charakter. Ein am Mittwocxh ausgestrahltes Interview des DDR– Fernsehens mit Mitterrand ist in den Ostberliner Zeitungen gekürzt wiedergegeben worden. So fehlte im Neuen Deutschland eine Passage, in der Mitterrand erklärt hatte, die Teilung Europas sei künstlich und weder geografisch noch geschichtlich gerechtfertigt. -ant–