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Es grünt im Bremer Szene-Viertel

„Große Koalition“ aus Grünen, CDU und FDP wählten alternativen Fahrradhändler auf zwölf Jahre zum Ortsamtsleiter / SPD-Kandidatin fiel im Viertel der Alternativ-Szene durch / Keine einfache Aufgabe für den neuen Stadtteil-Chef / Integrations- und Dialogfähigkeit ist gefragt  ■ Aus Bremen Klaus Schloesser

Ein Grüner soll bis zum nächsten Jahrtausend die Geschicke der Bremer Innenstadt und des Szene- Viertels Ostertor lenken. Am Dienstag abend wählten die beiden Bremer Kommunalparlamente der Bremer Stadtteile „Mitte“ und „Östliche Vorstadt“ den grünen Kandidaten und alternativen Fahrradhändler Dietrich Heck für zwölf Jahre zum neuen Stadtteil-Bürgermeister, im Bremer Behördendeutsch „Ortsamtsleiter“ genannt.

Nach wochenlangem Kandidaten-Hickhack entschied sich eine große Koalition der Oppositionsfraktionen von Grünen (7 Sitze), CDU (6) und FDP (2) am Dienstag im dritten Wahlgang mit zwölf Stimmen für den Grünen; die Gegenkandidatinnen von SPD und CDU konnten hingegen nicht einmal die Stimmen der eigenen Parteifreunde für sich verbuchen. Mit elf Stimmen für die SPD-Kandidatin verweigerte zumindest ein Genosse ihr die Zustimmung, bei der CDU darf sogar nach gleich zwei Abtrünnigen gefahndet werden, die entgegen der ausdrücklichen Anweisung ihres Bremer Parteivorsitzenden, Bernd Neumann, einen Grünen wählten.

Allerdings, so abwegig, wie SPD- und CDU-Parteiführung in Bremen die Kür eines Grünen zum „Stadtteilbürgermeister“ für die Bremer Innenstadt öffentlich finden, ist sie in der Tat nicht.

Seit den letzten Parlamentswahlen zur Bremischen Bürgerschaft am 13. September letzten Jahres, die – entsprechend dem Stadtteilproporz – gleichzeitig über die Besetzung der 22 Stadtteilbeiräte entscheiden, bekamen die Grünen im Wahlbezirk Ostertor mit 34,8 Prozent die meisten Stimmen, vor SPD (33) und CDU (18,3).

Die politische Stärke der Grünen im Ostertor, die ihnen am Dienstag erstmalig ein kommunalpolitisches Plätzchen in der Exekutive einbrachte, dürfte ihrem neuen Ortsamtsleiter allerdings gleichzeitig einiges Kopfzerbrechen bereiten. Im Gegensatz zu den homogenen Nobel- Stadtteilen Oberneuland und Schwachhausen oder den klassischen Arbeitervierteln Walle und Gröpelingen mischen sich im Ostertor alle Facetten großstädtischen Innenstadtlebens zu einer buntscheckigen, lebendigen, manchmal „explosiven“ Mischung.

Im ehemaligen Sanierungsgebiet Ostertor mit seinen inzwischen zumeist schmuck restaurierten Kaufmannshäusern leben Alternativszene und Altbremer Bürgertum, Drogenprostitution und Kleingewerbe, New-age- Boutique und Studentenkneipe ne beneinander. Im Zuge des großangelegten Sanierungsprogramms der sechziger und siebziger Jahre wurde die Einwohnerstruktur des Viertels einmal gründlich „durchgerüttelt“. Von einem gemächlich verträumten Altbremer Stadtteil wandelte sich das Viertel zu einem bunten Treiben, das in seinen Randzonen in der Perspektivlosigkeit von Arbeitslosigkeit und Suff verläuft.

Erst in der Silvesternacht kam es zu Krawallen am berühmt-berüchtigten „Sielwall-Eck“. Bei der „alternativen“ Silvesterfete gingen Schaufensterscheiben zu Bruch, Läden wurden geplündert, die 20köpfige Einsatzreserve der Polizei zog sich überfordert und tatenlos zurück. Geschäftsleute, für deren Glasschäden inzwischen keine Versicherung mehr aufkommt, dachten vor Jahren schon an die Gründung einer privaten „Bürgerwehr“.

Integrations-und Dialogfähigkeit mit allen Bewohnern des Viertels ist eine der wichtigsten Eigenschaften, die dem neuen Viertelbürgermeister nachgesagt wird. Er wird sie brauchen.

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