: Kompromiß für zwangssterilisierte NS–Opfer
■ Kein Bruch mit dem nationalsozialistischen „Erbgesundheitsgesetz“ / Ächtung der Maßnahmen und Entschädigungszahlungen
Von Klaus Hartung
Berlin (taz) - Am Mittwoch abend hat im Bundestag der Justizausschuß gegen die Stimmen der Grünen „Engültiges“ zum Thema Entschädigung an zwangssterilisierten NS–Opfern beschlossen: der Bundestag soll 1. erklären, daß die „von 1933 bis 1945 durchgeführten Zwangsterilisierungen Unrecht sind“; 2. soll der Bundestag „die Maßnahme ächten“; 3. wird „Achtung und Mitgefühl“ den Opfern bezeugt; außerdem sollen die Behörden „gezielt“ Zwangssterilisierte auf die einmalige Entschädigung von 5.000 DM hinweisen; 4. sollen sie nach der beschlossenen Aufstockung des Entschädigungsfonds auch „laufende Leistungen“ erhalten können und das 5. „rasch und unbürokratisch“. Um diesen Kompromiß zu begreifen, ist ein Rückblick in die Vorgeschichte dieser Entscheidung nötig. Der Justizausschuß hat wohlweislich nur die Zwangssterilisierungen für „Unrecht“ erklärt und die Ächtung „dieser Maßnahmen“ vorgeschlagen. Das Erbgesundheitsgesetz von 1933 selbst ist nicht berührt worden. Aber schon im Mai 1985 hatten die Grünen die „Nichtigkeitserklärung“ dieses Gesetzes verlangt. Bei einer solchen Erklärung wären dementsprechend alle gerichtlichen Anordnungen zur Zwangssterilisierung bis 1945 als nationalsozialistisches Unrecht anerkannt und mithin die Spruchpraxis der Entschädigungsämter in den letzten Jahrzehnten aufgehoben worden. Demgegenüber forderte die SPD seinerzeit die Ächtung jenes Erbgesundheitsgesetzes, mit dem Argument, Ächtung sei ja noch viel schärfer als Nichtigkeitserklärung. Tatsächlich ist aber Ächtung kein juristischer Begriff, bricht mithin nicht rechtswirksam mit dem NS–Gesetz, sondern verurteilt es nur moralisch. Schon am 12. September 1986 stand der Streit über Nichtigkeitserklärung oder Ächtung im Justizausschuß an. Allein es obsiegte ein CDU–Antrag, in dem Gutachten über Gutachten angefordert werden sollten. So sollte geklärt werden, ob das Erbgesundheitsgesetz überhaupt „Ausfluß NS–Gedankenguts“ sei, wie andere Länder bis heute die Zwangssterilisation regeln, „mit Einschluß der USA“, und ob es stimme, daß eine Entschädigung der Zwangsterilisierten über eine Milliarde Mark ko sten würde. Kurz: die zwei Motive der Verzögerung wurden explizit genannt - einmal die Kostendämpfung und zum anderen die Angst, daß eine Nichtigkeitserklärung jenes Nazi–Gesetzes Auswirkungen für geplante Regelungen zur Zwangsterilisierung bzw. für eugenische Maßnahmen haben könnte. Der CDU–Antrag wurde mit Stimmen der SPD beschlossen. Heinz Seesing (CDU), Initiator des Antrages, hatte ihn einge bracht, damit seine Partei überhaupt die Frage der Zwangsterilisierten weiter behandelt. Ein Jahr später stellte der Ausschuß fest, daß nicht einmal die Gutachten vorliegen. Ein Ministerialrat Mein erklärte, er sei in Kontakt mit dem emeritierten Psychiater Erhard, der wiederum das Erbgesundheitsgesetz für rechtstaatlich hält. Ende letzten Jahres beschloß der Ausschuß endlich, daß Gutachten nicht nötig sind. Mithin stand man wieder vor der Frage Nichtigkeitserklärung oder Ächtung. Nun rührte sich Justizstaatssekretär Kinkel mit einem langen Gutachten, wonach der Bundestag gar nicht für eine Nichtigkeitserklärung kompetent sei, sondern das Bundesverfassungsgericht. Das widersprach einer Expertise des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, wonach eine „Beseitigung nationalsozialistischen Rechts ... aus Gründen der Rechtssicherheit“ Sache des Gesetzgebers sei - laut Bundesverfassungsgericht. Der Justizausschuß verweigerte trotz energischer Attacken der grünen Abgeordneten Nickels die Diskussion. In knapp einer Stunde wurde der CDU/SPD–Kompromiß - Ächtung der „Maßnahmen“ und Entschädigungszahlungen - festgeklopft. Die Chance zum grundsätzlichen Bruch mit der NS–Gesetzgebung scheint damit vertan.
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